Mit einer neuen Dauerausstellung erinnert die „Euthanasie“-Gedenkstätte Lüneburg in fünf Themenräumen an rund 2.000 Tote sowie mindestens 820 Opfer von Zwangssterilisationen während des Nationalsozialismus.
Wie viel war ein Leben mit Beeinträchtigung in der NS-Zeit wert? Was wirkt bis heute nach? Auf diese und andere Fragen gibt die „Euthanasie“-Gedenkstätte Lüneburg im Rahmen ihrer neuen Dauerausstellung Antworten. Für insgesamt 1,4 Millionen Euro von Bund und Land Niedersachsen wurde ein Dokumentationszentrum errichtet, das vor wenigen Tagen im Wasserturm mit altem Badehaus (Haus 34) auf dem Gelände der Psychiatrischen Klinik Lüneburg mit der Dauerausstellung „Lebenswert“ eröffnet wurde.
Zu den Gästen zählten Maria Bering (Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien), die Niedersächsische Kultusministerin Julia Willie Hamburg sowie Dr. Elke Gryglewski, die Geschäftsführerin der Stiftung niedersächsische Gedenkstätten. Regionalbischöfin Marianne Gorka sprach gemeinsam mit dem katholischen Dechanten Carsten Menges ein Gebet zur Gedenkfeier.
Ausstellung auf 110 Quadratmetern Fläche
Mehr als 50 Angehörige aus dem In- und Ausland waren ebenfalls angereist, um das Ergebnis der dreijährigen Arbeit anzuschauen, zu der sie mit mehr als 30 Interviews beigetragen haben. Wer alle Interviews mit Angehörigen der Opfer und Täter sowie mit Zeitzeugen der Aufarbeitung der Lüneburger „Euthanasie“-Verbrechen sehen möchte, würde über sechs Stunden Zeit mitbringen müssen. Insgesamt hat es die Ausstellung auf 110 Quadratmetern Fläche in sich. Durch Schubladen, Klappen und zahlreiche Repliken zum Anfassen, Durchblättern und Betrachten wurde die Ausstellungsfläche nahezu verdreifacht. Doch damit nicht genug: 345 sogenannte NFC-Chips auf den Ausstellungsmöbeln und in den Vitrinen führen die Besucherinnen und Besucher zu weiterführenden Informationen – etwa zu einzelnen Protagonistinnen und Protagonisten, oder auch mehrseitigen Dokumenten, von denen nur eine Seite exemplarisch abgedruckt werden konnte.
Für die digitale Vertiefung wurden 1.350 Internetseiten angelegt – in vier verschiedenen Sprachen: Deutsch, Leichte Sprache, Englisch und Polnisch. Ergänzend wurden alle Texte eingesprochen – ob Biografie oder Bildunterschrift. Allein das Anhören der Namen und Lebensdaten aller rund 2.000 Lüneburger Opfer, die in einem Raum an die Wand projiziert und vorgelesen werden, dauert die Länge einer Öffnungszeit, das Anhören der Audiofassung der gesamten Ausstellung einschließlich der Vertiefung würde weit mehr als 50 Stunden benötigen. Weil zudem alle Abbildungen und Objekte mit einer Bildbeschreibung erschlossen wurden und durch den Einsatz von Braille-Schrift und digitalen Tools das Erfassen der Inhalte für Seh- und Hörgeschädigte möglich ist, setzt die Ausstellung auch im Hinblick auf Barrierefreiheit Maßstäbe.
„Hier werden Namen, Menschen und ihre Schicksale bewahrt. Hier finden sie Ruhe. Lebens-Geschichten hallen nach. Eine Würde kehrt zurück, die den Opfern genommen wurde“, erinnerte Marianne Gorka im Gebet anlässlich der Kranzniederlegung für die Opfer von „Eugenik“ und „Euthanasie“ auf der Gedenkanlage.
„Unser inhaltliches Ziel war es, in der Ausstellung die Familien, die Menschen mit ihren Geschichten ins Zentrum zu rücken – sowohl Opfer als auch Täter und Tatbeteiligte. Gleichzeitig wollten wir methodisch maximal inklusiv sein. Dazu gehörte auch die konsequente Einbeziehung von Menschen mit Beeinträchtigungen bei der Konzeption“, betont Dr. Carola Rudnick, die vor zehn Jahren ein erstes Nutzungs- und Erschließungskonzept für die Gedenkstätte vorlegte. Um das sicherzustellen, wurde neben einer wissenschaftlichen Fachkommission ein elfköpfiger Beirat eingesetzt, der sich aus Vertreterinnen und Vertretern der verschiedenen Opfergruppen (Menschen mit unterschiedlichen Beeinträchtigungen oder mit psychischer Erkrankung) sowie aus Nachfahren der verschiedenen Opfergruppen zusammensetzte. Insgesamt ein Novum auf dem Gebiet der „Euthanasie“-Aufarbeitung.
Die neue Dauerausstellung zeigt zukünftig auf Deutsch, Englisch und Polnisch in fünf Themenräumen (Namen fett gedruckt), welches Denken Voraussetzung für die Verbrechen war und welche Entscheidungen den Verbrechen zugrunde lagen. Das Handeln der Täter und ihre Verbrechen werden im größten Raum dokumentiert, einschließlich der Lebensgeschichten der Opfer. Hierbei geht es nicht nur um die Kindermorde in Lüneburg, sondern auch um die Deportationen im Rahmen der „Aktion T4“, die Zwangssterilisationen und um den gewaltsamen Tod ausländischer Patientinnen und Patienten. Ebenfalls neu ist, dass die Lüneburger Anstalt für Erkrankte aus Bremen, Hamburg-Langenhorn, Hannover-Langenhagen und Wunstorf Endstation war und nach dem Kriegsende ein regelrechtes Massensterben einsetzte, das erst 1947 endete. In Gedenken werden alle Opfer namentlich erinnert, und es ist zu erfahren, wie die Familien mit dem Verlust umgingen. Wie ungebrochen die Gewalt in der Nachkriegspsychiatrie bis heute fortgesetzt wurde, ist im letzten Raum zu sehen, er möchte zum Nachdenken anregen.
Fotos und Briefe legen Geschichten offen
In Abgrenzung zur alten Ausstellung wagt die Ausstellung zudem einen Perspektivwechsel: Kamen früher die Opfer und Täter, wenn überhaupt, ohne Gesicht und Namen vor, lebt die neue Dauerausstellung „Lebenswert“ vom Zeigen privater Fotos, von Erinnerungsstücken und von der maximalen Offenlegung der Namen und Lebensgeschichten. So können in einem „Gedenkbuch“ auch alle bisher namentlich identifizierten Opfer der Lüneburger Krankenmorde recherchiert werden, in einem „Täterbuch“ wiederum werden die Mörder transparent gemacht, einschließlich der meist ausgebliebenen Strafverfolgung nach Kriegsende. „Vieles, was uns in den vergangenen Jahren an persönlichen Überlieferungen, seien es Fotos, Briefe oder Erinnerungsstücke von Opfern oder Tätern, überlassen wurde, können wir endlich der Öffentlichkeit zugänglich machen und erzählen die damit verbundenen Geschichten“, erläutert Rudnick.
Wie aktuell und gegenwärtig die neue Ausstellung ist, zeigen die Berücksichtigung der Krankenmorde im Städtischen Krankenhaus Lüneburg, die erst vor kurzem intensiver erforscht wurden, die Einbeziehung der Scheingräber auf dem Friedhof Nord-West, die im April dieses Jahres entdeckt wurden, sowie die Nennung der jüngsten Anschläge auf Behinderteneinrichtungen. „Alles, wo wir mit neuen Erkenntnissen in den kommenden Jahren rechnen, zeigen wir bewusst im virtuellen Raum, um jederzeit Aktualisierungen vornehmen zu können“, erläutert Rudnick. Die Ausstellung wird daher nie abgeschlossen sein, auch das macht sie für Besucherinnen und Besucher zu einem wiederkehrend interessanten Erlebnis.
Henry Schwier, Vorsitzender des Trägervereins, betont: „Mit dem Dokumentationszentrum erreichen wir einen weiteren Meilenstein und schaffen einen Ort, an dem sich wirklich jeder über die Verbrechen der NS-Zeit an Menschen mit Beeinträchtigungen bis ins Detail informieren kann, Verbrechen, die bis heute strukturell prägend sind. Wir bedanken uns bei allen, die zum Gelingen der Ausstellung beigetragen haben.“
Dechant Carsten Menges mahnte: „In einer Zeit, in der alte, menschenverachtende Gedanken und Ideologien neu aufleben, gilt es, wachsam zu sein: Nächstenliebe, Menschenwürde und Zusammenhalt sind unveräußerliche Werte. Sie gelten allen Menschen, Gesunden und Kranken. Kein Mensch, kein Regime dieser Welt hat das Recht, sie einem anderen zu nehmen.“
Regionalbischöfin Marianne Gorka ergänzte: „Dort, wo sich Menschen einst angemaßt haben zu urteilen, welches Leben ‚lebenswert‘ sei und welches nicht, erinnern wir daran: Vor Gott ist jedes Leben unendlich kostbar.“
Auch Staatsminister Wolfram Weimer würdigte die Leistung des Dokumentationszentrums: „Mit der Ausstellung ‚Lebenswert‘ vermittelt die Gedenkstätte Lüneburg eindringlich, warum es niemals auch nur gedanklich eine Aberkennung der Menschenwürde geben darf. Sie zeigt, wie sich perfide Ideen gezielt gegen die Schwächsten richteten – gegen erkrankte und behinderte Frauen, Männer und Kinder. Bei den Nationalsozialisten mündeten sie in den ‚Euthanasie‘-Verbrechen der propagierten ‚Rassenhygiene‘. Dieses ideologische Tötungsprogramm lehrt uns für alle Zeiten: Nie wieder darf Menschenleben als ‚unwert‘ gelten! Nie wieder darf das Konzept der universellen Menschenwürde angetastet werden! Genau das macht uns die Gedenkstätte Lüneburg mit ihrer wertvollen Arbeit bewusst. Den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern danke ich sehr dafür, dass sie an die Geschichte von Menschen erinnern, von denen vielfach kein Name und auch keine letzte Ruhestätte überliefert ist.“