Wie schafft Kirche einen Kulturwandel?

Sexualisierte Gewalt ist für die Kirchenkreisjugendwartin Christine Kruse kein neues Thema. Schon seit einigen Jahren schult sie Mitarbeitende, sie hat ein Schutzkonzept vor sexualisierter Gewalt angestoßen und wirkt damit maßgeblich mit an einem Kulturwandel: Wie kann Kirche zu einem sichereren Ort werden? Im Doppel-Interview mit Regionalbischöfin Sabine Schiermeyer erklären beide, wie das gelingt, welche Dinge es noch braucht und wo Schwierigkeiten liegen.

Eine weiblich gelesene Person mit blonden Haaren.
Christine Kruse ist Kirchenkreisjugendwartin in Aurich.

Frau Kruse, Sie kümmern sich seit 2022 um die Fortbildung der Menschen in Ihrer Umgebung in Sachen Prävention sexualisierter Gewalt. Geht es voran?
Kruse:
Ja, es geht voran. Alle Gemeinden in meinem Bereich haben mittlerweile Schutzkonzepte und durch die ForuM-Studie zu den Ursachen für sexualisierte Gewalt speziell in der Evangelischen Kirche ist die Aufmerksamkeit für das Thema gewachsen. Die örtliche Presse hat unser Tun auch aufgenommen und sogar weitergedacht, zum Beispiel bei Sportvereinen nachgefragt, welche Konzepte sie haben. 

Eine weiblich gelesene Person mit hellblauem Schal steht vor einem Schild an einer Backsteinwand: Landeskirche Hannovers, Sprengel Ostfriesland-Ems
Bild: Hannegreth Grundmann
Sabine Schiermeyer ist seit Februar 2024 Regionalbischöfin im Sprengel Ostfriesland-Ems.

Schiermeyer: Als ich im Februar 2024 den Sprengel als Regionalbischöfin übernommen habe, was das das Thema, das immer oben lag. Es sind unterschiedliche Tempi in Gemeinden und Kirchenkreisen, vieles hängt am persönlichen Engagement der Multiplikatorinnen und Multiplikatoren, die sich ausbilden lassen und dann Schulungen in den Kirchengemeinden übernehmen. Frau Kruse etwa hat eigentlich gar kein Stundenkontingent für die Schulungen – macht sie aber entschlossen, weil ihr das Thema so wichtig ist.

Kruse: Seit März sind wir immerhin zu dritt als Multiplikatorinnen. Das ist gut, denn wir haben festgestellt, dass wir Schulungen auch eigentlich nur zu zweit anbieten möchten, nicht allein. Denn in jeder Schulung gibt es wenigstens eine betroffene Person oder jemanden, der oder die eine betroffene Person kennt. Es ist hilfreich, wenn dann eine von uns Schulenden mit denjenigen ins Gespräch gehen kann; manche Teilnehmenden sagen auch, dass sie nicht in der Lage sind, die Schulung ohne weiteres mitzumachen. Auch für die spätere Reflexion ist es hilfreich, sich austauschen zu können: Haben wir die Schulung gut gemacht, gab es vielleicht Dinge, die uns durchgerutscht sind oder die wir demnächst anders machen wollen? Das wäre eine dringende Empfehlung für alle, die Schulungen anbieten: Macht es nicht allein. 

Übersicht zum Thema

Haben Sie die Ressourcen denn?
Kruse:
Die Landessynode hat den Kirchenkreisen einmalige Finanzmittel zur Verfügung gestellt, 500.000 Euro. Ich wünsche mir, dass die Kirchenkreise die Präventionsmittel der Landeskirche aktiv nutzen, um fachlich geeignete Personen als Multiplikatorinnen und Multiplikatoren gegebenenfalls auf Honorarbasis zu gewinnen, um das Ziel der Schulung aller Ehrenamtlichen und Beruflichen bis Ende 2026 erreichen zu können. Wir brauchen mehr Menschen, die sich daran beteiligen. Es ist nicht so einfach, pro Kirchenkreis vier oder fünf Menschen zu finden, die die Schulungen anbieten möchten. Einerseits braucht es die Zeit, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen, aber es gehören auch viel Kraft und Sensibilität dazu. Man wird ja in seinem Umfeld ein Stück weit das Gesicht zu diesem Thema. Ich selbst zum Beispiel bin Kirchenkreisjugendwartin und möchte nicht nur auf dieses Thema festgelegt werden. 

Frau Schiermeyer, wie können Sie da helfen?
Schiermeyer:
Ich sehe meine Rolle vor allem im Wachhalten des Themas Sexualisierte Gewalt und in der Stärkung der Multiplikatorinnen und Multiplikatoren, um sie zu unterstützen und für ihre Arbeit zu werben. Anfangs wurde die Notwendigkeit von Schulungen nicht überall gesehen – das hat sich aber schon verändert. Ich habe den Eindruck, dass wir miteinander bei den Themen Grenzüberschreitung und Machtmissbrauch deutlich sensibler geworden sind. Wir dürfen da jetzt aber nicht stehenbleiben, sondern müssen zum Beispiel auch die Thematik des geistlichen Missbrauchs beleuchten.

Kruse: Ja, das und andere Themen, die wir noch nicht auf dem Zettel haben. Zum Beispiel, dass die Gewalt auch unter Jugendlichen passiert, nicht immer mit Beteiligung von Erwachsenen. Dazu gibt es einen Fachtag am 17. September beim DRK Hannover, auf den ich sehr gespannt bin. Das ist eine Veranstaltung des Landesjugendpfarramtes in Kooperation mit der Fachstelle der Landeskirche.

Schiermeyer: Ein weiteres Thema ist die Art der Schulungen, die ausdifferenziert werden sollte: Es ist ein Unterschied, ob ich Ehrenamtliche schule oder leitende Personen. Auch innerhalb einer Schulungssituation gibt es Machtstrukturen, die wir noch mehr in den Blick nehmen sollten. 

Kruse: Wünschenswert wäre auch eine gute Vernetzung der Multiplikatorinnen und Multiplikatoren in einem Sprengel, nicht nur, um sich gegenseitig zu unterstützen und Infos auszutauschen, sondern auch, um z.B. Tipps für die Öffentlichkeitsarbeit zu sammeln.

Schiermeyer: Im Sprengel Ostfriesland-Ems wollen wir einmal im Jahr ein Vernetzungstreffen anbieten und dann die Fachstelle der Landeskirche dazuholen, damit sie Fragen direkt beantworten kann. 

"Kulturwandel beginnt an der Basis"

Sie beschreiben das mit großer Motivation. Aber wie gehen Sie mit Widerständen um? 
Kruse:
Ich bezeichne es gern als Qualitätsmerkmal für eine Gemeinde, wenn ein Schutzkonzept erarbeitet wurde. Und betone, dass jede Gemeinde betroffene Personen hat, ob man davon weiß oder nicht. Diese Menschen sind in den Konfi-Gruppen, im Seniorenkreis und anderen Gruppen – da muss man sich einfach bewusst machen, wie man über das Thema spricht, damit die Betroffenen sich sicher fühlen und sich womöglich dann auch öffnen. Jede Person kann eine gewaltvolle Biografie haben, da müssen wir versuchen, so gut es geht, einen sicheren Raum zu bieten. 

Schiermeyer: Ich erzähle gern von meinen Erfahrungen bei meiner Schulung – es gibt viele Aha-Momente, wenn man sich mit dem Thema beschäftigt, und Dinge, die man in der täglichen Arbeit sofort verändert. 

Kruse: Es darf und soll ja auch diskutiert werden! Eine Gemeinde zum Beispiel hat festgestellt, dass manche sich nicht trauen, Verbesserungsvorschläge zu machen. Nun haben sie Beschwerdeboxen auf jeder Toilette aufgestellt, in die jede und jeder anonym Hinweise einwerfen kann. Das ist klasse.

Man könnte sagen: Papier ist geduldig. Können Schutzkonzepte wirklich zu einer sichereren Welt führen? 
Schiermeyer:
Es stimmt, das Ganze ist ein Marathonlauf, kein Sprint. Ein Konzept ist das Papier nur wert, wenn es in den Köpfen und Herzen der Menschen ankommt. Wir werden Gewalt nicht verhindern können, aber wir wollen kirchliche Räume so sicher wie möglich machen. Deshalb ist es auch so wichtig, dass jeder Kirchenkreis, jede Einrichtung und jede Kirchengemeinde ihr eigenes Schutzkonzept entwickelt. Ein allgemeines Konzept für alle, das alle nur unterschreiben, das niemand durchliest und das dann im Schreibtisch verschwindet, hilft niemandem. 

Kruse: Viele Taten sind bisher auch passiert, weil nicht darüber geredet wurde. Gerade bei den älteren Generationen hieß es oft: Darüber spricht man nicht. Das können wir ändern! Die Angst nehmen, von Betroffenheit zu sprechen. Wir wollen es den Tätern und Täterinnen so schwer wie möglich machen.

Schiermeyer: Ja, wir müssen alte Muster aufbrechen, das Schweigen, das Wegsehen der Institution, die Selbst-Schuldzuweisungen der Betroffenen. Ihnen muss zugehört und geglaubt werden.

Kruse: Zu sagen ,Ich glaube Dir‘ hilft oft schon enorm. Dadurch ist er oder sie nicht ausgegrenzt, sondern anerkannt. Darum geht es. Der Kulturwandel beginnt an der Basis: etwa von Betroffenen sprechen, nicht von Opfern. Ihnen Vertrauen und Raum geben und sensibel sein. Dann sind wir der sichere Ort, der wir gern sein wollen.

EMA