Sozialarbeit im Bahnhof: Dahin gehen, wo die Not am größten ist

Zwei Personen mit blauen Westen, auf denen "Bahnhofsmission" steht, stehen im vollen hannoverschen Bahnhof.
Bild: epd-bild/Nancy Heusel

Wenn es so richtig wuselig ist und die Menschen auf dem Hauptbahnhof in Hannover schnell zu ihren Bahnsteigen hechten oder fix noch Besorgungen machen, dann sind Linus Steinfelder und Silvia Krüger (Name geändert) die Ruhe selbst. Betont langsam, betont präsent, betont fokussiert. Das müssen sie sein, denn ihr Job ist es, für Wohlbefinden und Fürsorge, für mehr gefühlte Sicherheit zu sorgen. Steinfelder und Krüger sind die sogenannten „Bahnhofs:läuferinnen“ der Bahnhofsmission Hannover. Das bisher einmalige Pilotprojekt der Deutschen Bahn hat im Oktober begonnen. Und erste Auswertungen zeigen: Es macht sich bezahlt.

Inmitten der rund 280.000 täglichen Bahnhofsbesucher halten Steinfelder und Krüger die Augen offen nach Menschen am Rand, nach Hilflosen, Behinderten, nach Betrunkenen. Langsam ziehen die beiden am frühen Abend ihre Runden durch den Bahnhof, über die Bahnsteige, vor den Eingängen, beinahe schlendernd. Ein harter Kontrast zur Geschäftigkeit drumherum. „Das ist wichtig, damit wir erkannt werden und selbst nichts übersehen“, sagt Krüger. Sie hat einen Blick für nicht sofort offensichtliche Gebrechen und Nöte von Menschen, ihre berufliche Erfahrung als Tagespflegerin von Menschen in prekären Lebensumständen hilft ihr in dem neuen Projekt.

Zwei Personen in blauen Westen begleiten zwei Menschen im Bahnhof.
Bild: epd-bild/Nancy Heusel
Inmitten der rund 280.000 taeglichen Bahnhofsbesucher halten Krueger und Steinfelder die Augen offen nach Menschen am Rand, nach Hilflosen, Behinderten, nach Betrunkenen.

Es geht um Hilfe, nicht um Repressionen
Bobby und Nicole machen gerade in Hannover Platte, wie das Schlafen unter Brücken oder in Hauseingängen genannt wird. Weil die Temperaturen draußen den Gefrierpunkt erreichen, sind sie in den hinteren Teil des Hauptbahnhofs geflüchtet, stehen inmitten von Reisenden und jungen Partyleuten. Aufgekratzt sind sie, als sie den beiden Bahnhofsläufern begegnen, erzählen bereitwillig aus ihrem Leben, denn sie merken schnell: Es geht um Hilfe, nicht um Repressionen. „Wir sind jetzt die Schnittstelle zwischen Reisenden, Menschen mit Problemlagen, Hilfsorganisationen und Sicherheitsdiensten“, sagt Steinfelder, der kurz vor einem Studium der Sozialen Arbeit steht.

„Die sind cool, denen kannst du trauen“, sagt Bobby, Bier in der Hand. Seit dem Tod seiner Liebsten sei er aus der Bahn geworfen. Nicole wirkt traurig. Worum es geht, vertraut sie nur Silvia Krüger an. Bei dem Pop-up-Beratungsgespräch inmitten von Hunderten Passanten bleibt Krüger ganz bei Nicole. Das beeindruckt nicht nur Bobby. Wer weiß, ob seine Gefährtin mit ihrem Problem eine Beratungsstelle aufgesucht hätte. „Wir können meist nicht direkt vor Ort Probleme lösen, das ist klar, aber wir erreichen Menschen anders als Sicherheitsdienste und können zu Hilfeeinrichtungen weiterleiten“, erläutert Krüger. Die Bahnhofsläufer begleiten das Paar noch ein Stück. Unweit des Bahnhofs öffnet gerade das Nachtcafé für Obdachlose.

Blick auf den weihnachtlich geschmückten hannoverschen Bahnhof, vor dem eine Person in blauer Weste mit einer sitzenden Person spricht.
Bild: epd-bild/Nancy Heusel
Silvia Krueger (Name geaendert) und Linus Steinfelder

Kommunikation mit der Übersetzungs-App
Unmittelbar vor dem Hauptbahnhof lockt im Dezember ein Weihnachtsmarkt. Am Rande des Treibens sind Marek und Kamil gestrandet. Als Wanderarbeiter hatten sie ihr Glück in Deutschland versucht und sind damit gescheitert. Die beiden Polen verstehen kaum Deutsch, der bärtige alte Marek hat Gehstützen und einen offenbar entzündeten linken Arm. Ihn zu beugen, geht kaum noch. Mit einer Übersetzungs-App auf dem Handy versuchen Steinfelder und Krüger eine Kommunikation. Sie hatten die beiden Polen schon gestern getroffen. Da war es noch schwieriger. „Vertrauensaufbau braucht Zeit“, sagt Steinfelder.

Am nächsten Vormittag habe er Frühdienst, lässt Steinfelder sein Handy auf Polnisch mitteilen. Da sei ein Ambulanzmobil der Caritas in Hannover unterwegs. Marek wirkt misstrauisch. Neue Schuhe werde er ihm aus der Kleiderkammer der Bahnhofsmission mitbringen, lässt Steinfelder sein Handy noch ergänzen. Marek strahlt und tippt sich mit der gesunden rechten Hand mehrfach hintereinander vor die Brust. „Danke“, mag das wohl bedeuten. „Bis morgen dann“, übersetzt das Handy Mareks Zusage.

Zwei jüngere, etwas ärmlich wirkende Frauen im Bahnhofsvorraum winken an diesem Abend ab. Und Fred, der direkt vor dem Hauptbahnhof in der Kälte Pfanddosen sammelt, grüßt nur freundlich, aber bestimmt. Das Angebot der Bahnhofsläufer ist konsequent freiwillig. Meistens klappt es. Nur etwa jedes zehnte Hilfeangebot werde abgewehrt, berichtet Steinfelder. „Das akzeptieren wir dann selbstverständlich.“

Eine Passantin kommt unten am Aufgang zu Gleis 2 auf das Team zu. Bemerkt die Kamera, die die beiden Bahnhofsläufer begleitet. „Ich habe die beiden hier jetzt schon öfter erlebt“, erzählt sie. Sie sei Pendlerin, wolle das „Augenhöhe-Projekt“ einfach nur mal loben. „Gut, dass jemand verlässlich da ist“, sagt sie noch und verschwindet wieder in der Menschenmenge.

Alle Fälle werden dokumentiert
Das Pilotprojekt wird von der Deutschen Bahn finanziert und engmaschig evaluiert. Alle Tätigkeiten, alle Fälle der Bahnhofsläufer, werden dokumentiert. Die Gewerbetreibenden im Bahnhof wurden bereits online zu ersten Erfahrungen befragt. „Es läuft gut an“, sagt Sven Seelisch, Fachkoordinator für Objektsicherheit bei der Bahn. Er hat das Projekt gemeinsam mit Karen Hammerich organisiert, der Leiterin der Bahnhofsmission. „Durchschnittlich haben wir 65 Kontakte pro Schicht“, sagt Hammerich. Manchmal mehrere Tage hintereinander dieselben. Die fünf Angestellten des Projekts, erkennbar an ihren blauen Westen, arbeiten in zwei Schichten von 10 bis 14 und von 16 bis 21 Uhr. Vorerst bis Ende März, danach müsse das Bahnmanagement über eine Fortführung entscheiden, erklärt Seelisch - und womöglich auch über eine Ausweitung des Projekts auf andere Bahnhöfe in Deutschland.

Volker Macke (epd)