
Wie kann die Kirche heute ihrem Anspruch gerecht werden, wirklich Kirche für alle zu sein? Diese Frage stand im Mittelpunkt der Podiumsdiskussion „Kirche für alle? Mutig an Vielfalt glauben“ auf dem Kirchentag in Hannover.
Menschen mit transkultureller, jugendlicher und queerer Perspektive diskutierten gemeinsam mit Fachleuten über Chancen, Herausforderungen und Zielkonflikte auf dem Weg zu einer inklusiven Kirche. Die Debatte tangierte auch das Thema „Anfänge im Glauben“, das die Landeskirche Hannovers zum Schwerpunkt ihres künftigen Handelns machen möchte.
Auf dem Podium diskutierten EKD-Präses Anna-Nicole Heinrich, Soziologe Aladin El-Mafaalani, Theologin Dr. Nathalie Eleyth, Diversity-Trainer Jens Ehebrecht-Zumsande, Pastor Robert Neumann (Jugendkirche Haldensleben), Pastorin Dagmar Wegener (queerfreundliche Baptistengemeinde Berlin) und Elorm Nick Ahialey-Mawusi (transkulturelle Gemeinde Leipzig).
Vielfalt als Zugang zum Glauben
Die Beiträge von Elorm Nick Ahialey-Mawusi und Robert Neumann verdeutlichten, wie niedrigschwellige, offene und vielfältige Gemeindeformen neue Zugänge zum Glauben ermöglichen. Die „living generation church“ versteht sich als transkulturelle und generationenübergreifende Gemeinde, in der das Evangelium als Kraft erlebt wird, die kulturelle und ethnische Barrieren überwindet. Im Zentrum steht Jesus, die Gemeinschaft lebt von gelebtem Glauben und Empowerment. Diese Form von Kirche eröffnet Menschen mit unterschiedlichsten Hintergründen neue Anfangspunkte für den Glauben – jenseits traditioneller Strukturen.
Auch die Jugendkirche Haldensleben (Juki HDL) setzt auf einen emanzipierten Zugang: Hier gestalten Jugendliche ihren Glauben selbst und erleben Kirche als „safe space“, in welchem Vielfalt aktiv gelebt wird. Besonders in konservativ geprägten Regionen entstehen so neue Berührungspunkte mit Gott und Gemeinschaft.
Anerkennung, Gemeinschaft – und Konflikte
Die Diskussion zeigte, dass Seelsorge heute vor allem bedeutet, Räume zu schaffen, in denen Menschen so angenommen werden, wie sie sind. Anerkennung, Wärme und Akzeptanz wurden von den Jugendlichen als zentrale Werte benannt. Die Seele wird gestärkt, wenn niemand Angst haben muss, für den eigenen Glauben oder die eigene Identität verurteilt zu werden.
Zugleich wurde deutlich: Vielfalt ist nicht konfliktfrei. Soziologe Aladin El-Mafaalani betonte, dass jede Institution eine Identität braucht und das Streben nach „Kirche für alle“ immer auch Zielkonflikte mit sich bringt. Die rote Linie liegt dort, wo die religiöse Identität oder die Integrität anderer Menschen infrage gestellt wird. Kirche muss lernen, Konflikte auszuhalten und „ordentlich zu streiten“, ohne die Gemeinschaft zu gefährden – eine zentrale Aufgabe für die seelische Gesundheit aller.
Kirche als Anwältin marginalisierter Gruppen
Baptistin Dagmar Wegener aus Berlin-Schöneberg betonte unermüdlich: „Bei Gott sind alle willkommen, alle.“ In ihrer Gemeinde werde diese Haltung praktisch gelebt – etwa durch die Trauung gleichgeschlechtlicher Paare und die bewusste Einbindung queerer Menschen. Kirche wird so zum Ort, an dem gesellschaftliche Veränderung konkret erfahrbar ist.
Gleichzeitig wurde auf dem Podium die Gefahr der Beliebigkeit diskutiert. El-Mafaalani warnte davor, dass eine Kirche ohne klaren Kern ihre Identität verlieren könnte. Theologin Nathalie Elyth betonte, die Kirche müsse sich als Anwältin aller marginalisierten Menschen verstehen und im digitalen wie analogen Sozialraum präsenter und solidarischer auftreten, um gesellschaftliche Verantwortung zu übernehmen und extremen Kräften keine Deutungshoheit zu lassen.
Institutionelle Herausforderungen
EKD-Präses Anna-Nicole Heinrich und der Hamburger Katholik Jens Ehebrecht-Zumsande waren sich einig, dass Veränderungsprozesse in der Kirche langwierig sind. Die EKD sei ein „großer, schwerfälliger Tanker“, so Heinrich, aber es gebe viele schnelle Beiboote. Junge Menschen bringen sich aktiv ein, doch alte Strukturen wirken fort. Die Kunst bestehe darin, im Gespräch zu bleiben, ohne rote Linien zu überschreiten – etwa indem man mit Rechten spricht, ihnen aber keine Repräsentationsmacht gibt.
Mehr als 500 Teilnehmende verfolgten die Debatte aufmerksam. Einer von ihnen war Kirchentagsbesucher Wilhelm Paetzmann. Seine Meinung zum Thema Kirchen für alle: „Kirche war immer schon Kirche für alle. Das ist nichts Neues. Es ist ihr Anspruch seit jeher gewesen.“ Doch, so Paetzmann weiter, sei dieser Anspruch in der Geschichte immer wieder vernachlässigt oder vergessen worden. Man müsse den Weg der Öffnung weitergehen. „Das ist eigentlich die Aufgabe.“
Mutig an Vielfalt glauben – aber wie?
Am Ende waren sich die Diskutierenden weitgehend einig: Eine Kirche für alle ist ein Kompass, kein erreichbares Ziel. Es braucht Mut, Vielfalt nicht nur zu proklamieren, sondern konkret zu leben – in der Gemeinde, im Sozialraum und im digitalen Raum. Die größte Herausforderung bleibt, Vielfalt nicht nur zu behaupten, sondern sie in Strukturen, Kommunikation und Alltag zu übersetzen – und dabei die eigene Identität nicht zu verlieren, sondern zu schärfen. Daran will sich auch die Landeskirche Hannovers in Zukunft messen lassen und so neue „Anfänge im Glauben“ ermöglichen.