Geistliche Gemeinschaften sind so alt wie die Kirche selbst. Und doch sind sie jüngst im Kontext von Übergriffen und Machtmissbrauch in eine Debatte geraten, die ihrem Ursprung und ihrem Potential nicht gerecht wird. Geistliche Gemeinschaften sind zahlenmäßig klein innerhalb der Landeskirche, deswegen ist oft nicht bekannt, was sie sind und was sie antreibt. Thomas Steinke und Daniel Rudolphi, Referenten in der Evangelischen Agentur der Landeskirche, wissen mehr:
Was ist eine geistliche Gemeinschaft?
Thomas Steinke: Eine geistliche Gemeinschaft im weitesten Sinne ist eine Gruppe von Menschen, die sich zusammenschließt, um ihr geistliches Leben zu vertiefen und den Glauben gemeinsam intensiver zu leben. Sie eint eine existenzielle Suche nach einer spirituellen Kraftquelle, die sie in ihrem Alltag stärkt und bereichert. Es geht also um eine wechselseitige Vergewisserung des Glaubens, um Inspiration für das eigene geistliche Leben, so dass der Glaube sich im Alltag auswirkt. Diese Gemeinschaft gestaltet beispielsweise Gebetszeiten, Andachten oder Gottesdienste in der Form, die für sie stimmig ist. Es gibt Gemeinschaften, die eine bestimmte Frömmigkeitsform teilen, andere leben an einem Ort gemeinschaftlich, teilen den Alltag und unterstützen sich gegenseitig.
Warum reicht dafür meine örtliche Kirchengemeinde nicht aus?
Daniel Rudolphi: In einem weitgefassten Verständnis sind Geistliche Gemeinschaften von Anfang an Teil der Kirche. Man kann sogar sagen, dass der Ursprung unserer Kirche in einer geistlichen Gemeinschaft begründet liegt – einer Gemeinschaft, die sich um den Wanderprediger Jesus gebildet hat und sich zunächst als innerjüdische Bewegung verstand.
Mit der zunehmenden Institutionalisierung der Kirche im 4. Jahrhundert und einem leichten Rückgang der Anfangsbegeisterung entstanden erste Orden – Zusammenschlüsse von Menschen, die eine intensive Gottesbeziehung suchten. Im 19. Jahrhundert entstanden zahlreiche geistliche Gemeinschaften, die eine positive Rückwirkung auf die Kirche und ihre Gemeinden hatten.
Geistliche Gemeinschaften sind für Menschen attraktiv, die ein besonders intensives Glaubensleben führen möchten. In der gesamten Kirchengeschichte zeigt sich eine Dynamik wechselseitiger Beziehungen – das ist kein neues Phänomen, sondern ein wesentlicher Bestandteil der Identität der Kirche.
Ist die geistliche Gemeinschaft eine Konkurrenz zur Kirchengemeinde?
Thomas Steinke: Geistliche Gemeinschaften verstehen sich nicht als Konkurrenz, sondern eher als Ergänzung. Sie bieten ganz spezifische Aspekte der spirituellen Vertiefung und Gemeinschaft, die über die Formen in Kirchengemeinden hinaus gehen. Viele solcher Gemeinschaften sind etwa im 19. Jahrhundert im diakonischen Bereich entstanden: Christinnen und Christen haben sich zusammengetan, um etwas dagegen zu tun, dass in Großstädten viele Menschen in prekären Verhältnissen lebten und verelendeten. Im Grunde waren es Aktionsgruppen, deren soziales Engagement im christlichen Glauben gründete. Sie haben angesichts der Nöte für sich einen Ruf Gottes gehört und ihren Einsatz als Nachfolge Jesu in ihrer Zeit verstanden. Die Diakonissen-Mutterhäuser und andere diakonische Zusammenschlüsse sind so entstanden.
Viele weitere Gemeinschaften wurden in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts gegründet – mit unterschiedlichen Schwerpunkten: Etwa im Bereich der Seelsorge, mit Orten, an denen Menschen eine Zeit lang mit leben und bei Bedarf Unterstützung und Begleitung erfahren können. Oder mit dem Schwerpunkt Bildung oder Spiritualität und Kontemplation. Interessant ist auch der Aspekt, dass zum Selbstverständnis vieler Gemeinschaften eine ökumenische Ausrichtung gehört: Viele verbinden ein lutherisches oder evangelisches Profil bewusst mit anderen Traditionen, z. B. aus der römisch-katholischen Frömmigkeitskultur. Auch darin unterscheiden sie sich in der Regel von Gemeindefrömmigkeit.
Wie gestaltet sich das Leben in einer geistlichen Gemeinschaft?
Daniel Rudolphi: Die Struktur und Organisation von geistlichen Gemeinschaften können sehr unterschiedlich sein. Die meisten haben eine klare Vereinsstruktur und sind rechtlich eigenständig, während andere informeller organisiert sind. Häufig basiert die Gemeinschaft auf dem klaren und verbindlichen Commitment der Mitglieder. Unter dem großen Begriff der geistlichen Gemeinschaften fassen wir im Rahmen unserer Landeskirche sehr unterschiedliche Phänomene: Geschwisterschaften, Lebensgemeinschaften, Konvente unserer Klöster, freie Werke mit pietistischem Hintergrund, ökumenisch ausgerichtete Gemeinschaften aber auch Vereine, die eher durch den Linksprotestantismus geprägt sind.
Thomas Steinke: Das Leben in den geistlichen Gemeinschaften kann ganz unterschiedlich aussehen. Wenn die Mitglieder einer Gemeinschaft gemeinsam an einem Ort leben, gibt es meistens einen geistlichen Rhythmus in Form von gemeinsamen Gebetszeiten, Andachten oder Gottesdiensten, die den Tag oder die Woche strukturieren. Andere Gemeinschaften sind dadurch miteinander verbunden, dass sie, obwohl sie an unterschiedlichen Orten leben, dieselbe spirituelle Form praktizieren, wie etwa die Gemeinschaft „Via cordis“ das Herzensgebet. In bestimmten Abständen treffen sie sich an einem festen Ort oder an wechselnden Orten zum gemeinsamen Gebet und Austausch. Wieder andere Gemeinschaften haben sich rund um einen bestimmten Ort gesammelt, weil sie die dort praktizierte Spiritualität inspiriert hat und sie über punktuelle Begegnungen hinaus miteinander verbunden bleiben möchten: In der geistlichen Bewegung „Parakaleo“ des Geistlichen Zentrums Kloster Bursfelde schließen sich Menschen für jeweils ein Jahr zu einer verbindlichen Gemeinschaft zusammen, um sich gegenseitig auf ihrem Lebens- und Glaubensweg zu stärken.
Wie wird die Finanzierung von geistlichen Gemeinschaften geregelt?
Thomas Steinke: Die Finanzierung kann variieren. Einige Gemeinschaften erheben Mitgliedsbeiträge, während andere auf Spenden angewiesen sind. In einigen Fällen können Gemeinschaften auch durch ihre eigene wirtschaftliche Tätigkeit finanziert werden.
Welche Herausforderungen sehen Sie für geistliche Gemeinschaften in der Zukunft?
Daniel Rudolphi: Eine der größten Herausforderungen besteht in der Balance zwischen der individuellen Freiheit der Gemeinschaften und den Standards, die von der Landeskirche gesetzt werden. Zudem besteht das Risiko der Abkapselung und des Verlusts des Dialogs mit der Ortsgemeinde oder der Landeskirche.
Thomas Steinke: Es ist auch deshalb wichtig, dass geistliche Gemeinschaften mit der Landeskirche im Dialog bleiben, weil aus diesem Austausch neue Impulse für die Kirche und ihre Zukunftsprozesse entstehen können.
Gerade wenn es um neue Formen, neue Arten der Vergemeinschaftung oder der Spiritualität geht, sind geistliche Gemeinschaften oft Pioniere. Wir sind überzeugt, dass der Landeskirche etwas fehlen würde ohne die geistlichen Gemeinschaften – aber auch den geistlichen Gemeinschaften fehlt etwas, wenn sie sich isolieren. Gemeinsam sind wir Kirche.
Gibt es spezifische Regelungen oder Strukturen, die für alle geistlichen Gemeinschaften gelten sollten?
Thomas Steinke: Die Eigenständigkeit der geistlichen Gemeinschaften ist bereits mehrfach angeklungen: Sie waren geschichtlich und sind in der Regel auch heute institutionskritisch und können daher auch ein Korrektiv zur verfassten Kirche bilden. Und gleichzeitig: Es muss klare Standards und Regelungen geben, die für alle gelten, die sich unter dem Dach der Landeskirche sehen und verstehen. Schutzkonzepte und Prävention von Missbrauch. Ich sehe hier aber keinen prinzipiellen Unterschied zwischen geistlichen Gemeinschaften und Kirchengemeinden oder anderen kirchlichen Einrichtungen: Diese Standards und Regeln müssen für alle gelten. Wir müssen uns bewusst sein: Risiken bestehen in allen Formen des Zusammenkommens.
Welche Risiken bestehen bei geistlichen Gemeinschaften und Kirchengemeinden, die sich um charismatische Personen gruppieren?
Daniel Rudolphi: Eine der Herausforderungen bei geistlichen Gemeinschaften, die um charismatische Persönlichkeiten gebildet werden, ist das Potenzial für Missbrauch und Machtmissbrauch. Es besteht die Gefahr, dass Mitglieder in eine persönliche Abhängigkeit von einer charismatischen Führungspersönlichkeit geraten, was zu einem Mangel an Kritikfähigkeit und möglicherweise zu einem "Kartell des Schweigens" führen kann. Diese Dynamik kann dazu führen, dass Mitglieder ihre eigene Intuition und ihr kritisches Denken nicht mehr einbringen. Aber genau dieses Risiko besteht in jeder Kirchengemeinde auch. Wir müssen an alle Stellen schauen, wo es Machthierarchien gibt.
Was unternimmt die Landeskirche, um solchen Risiken entgegenzuwirken?
Thomas Steinke: Die Landeskirche ist sich dieser Risiken bewusst und arbeitet daran, Standards für den Umgang mit geistlichen Gemeinschaften zu etablieren, die sich anlehnen an den Standards, die sie für Kirchengemeinden und -kreise sowie für kirchliche Einrichtungen formuliert hat. Dazu gehört die Entwicklung von Schutzkonzepten und die Schulung von Mitarbeitenden. Mit Blick auf geistliche Gemeinschaften lässt sich ergänzen, dass diese die Kirchenverfassung anerkennen und sich an bestimmte Richtlinien halten. Die Landeskirche fördert auch den Austausch und Dialog zwischen den Gemeinschaften, um Transparenz zu schaffen und eine Kultur der Verantwortung zu fördern.
Thomas Steinke ist Referent im Team Spiritualität in der Service Agentur der Landeskirche
Daniel Rudolphi ist Referent für Religiosität und Weltanschauungen in der Service Agentur der Landeskirche