„Erst zum Mecki, dann zum Friseur“

96-jährige Annemarie Streit hilft Wohnungslosen im Kontaktladen am Hauptbahnhof Hannover
Eine ältere Dame mit kurzen grauen Haaren und einer blauen Bluse steht vor dem Kontaktladen Mecki. Dort hilft die 96-Jährige ehrenamtlich Wohnungslosen.
Bild: epd-Bild/Jens Schulze

Wenn Annemarie Streit in den Kontaktladen "Mecki" für Wohnungslose kommt, wissen die Mitarbeiterinnen: Drei Wochen sind um. Regelmäßig bringt die 96-Jährige Spenden vorbei. Eier für das Frühstück und Hygieneartikel - persönlich, das ist ihr wichtig.

Hannover. Auf den Rollator gestützt betritt Annemarie Streit den Kontaktladen für Wohnungslose „Mecki“ am Hauptbahnhof in Hannover. Die Stufe im Eingangsbereich ist dabei immer eine Hürde. Doch ein Mann, der bei der Frühstücksausgabe in der Schlange steht, hilft ihr. „Einmal hochgezogen, und der Arm ist ab“, scherzt er. Annemarie Streit ist 96 Jahre alt. Seit mehr als 40 Jahren engagiert sie sich ehrenamtlich in der Wohnungslosenhilfe.

„Eine treue Seele“, sagt die Sozialassistentin Christine Pleus und blickt über das Laptop hinweg, in dem sie gerade die Besucherstatistik führt. Kurz nach acht Uhr füllt sich der Treffpunkt. Am Tresen geben die Mitarbeiterinnen belegte Brötchen und Kuchen aus - Spenden von der Bahnhofsmission und von Bäckern. Und es gibt die hartgekochten Eier, die Annemarie Streit und ihr Unterstützer Bernd Winkler immer mitbringen, 80 Stück jedes Mal.

Die ehrenamtlichen Helferinnen Claudia Tappe und Annemarie Streit. Claudia Tappe hält ein Tablett mit Brezeln in der Hand.
Bild: epd-Bild/Jens Schulze
Die ehrenamtlichen Helferinnen Claudia Tappe und Annemarie Streit. Immer hat Annemarie Streit Spenden dabei: Brötchen, Zipperbeutel mit Hygieneartikeln wie Papiertaschentüchern und Seife, im Winter Gestricktes.

 

Wenn die Winklers die 96-Jährige alle drei Wochen mit dem Auto abholen, steht das Programm fest. „Erst geht es zum Mecki' dann zum Friseur und dann zum Wocheneinkauf bei Aldi“, fasst sie es zusammen. Immer hat sie Spenden dabei, fürs Frühstück, Zipperbeutel mit Hygieneartikeln wie Papiertaschentüchern und Seife, im Winter Socken, Stulpen, Mützen. „Meine Frau und sie verstricken locker Wolle für ein- bis zweitausend Euro im Jahr“, sagt Bernd Winkler. Denn Annemarie Streit ist überzeugt: „Selbstgestricktes hält länger und ist wärmer.

Es ist ihr wichtig, die Spenden persönlich vorbeizubringen, auch wenn sie immer weniger der Besucher im „Mecki“ kennt. „Vieles hat sich verändert“, sagt sie. „Es kommen immer mehr, die kein Deutsch sprechen.“ Doch dann tritt ein Mann in roter Jacke auf sie zu, lange drücken sie zur Begrüßung einander die Hand. Eine Vertrautheit, die für ihn nicht selbstverständlich sei, erläutert der ältere Herr. „Man muss eine gewisse Schwelle überwinden“, sagt er. Er habe viel Negatives erlebt. „Aber sie ist eine hervorragende Persönlichkeit. Und die Idee, so lange durchzuhalten, ist bemerkenswert.“

Annemarie Streit und ein älter Herr mit blauer Mütze und roter Jacke geben sich lächelnd die Hand.
Bild: epd-Bild/Jens Schulze
Den Herrn in der roten Jacke kennt Annemarie Streit schon lange. Er findet: „Sie ist eine hervorragende Persönlichkeit."

Anfangs ist Annemarie Streit gemeinsam mit ihrem mittlerweile verstorbenem Bruder Gerhard viele Jahre lang regelmäßig in den Straßen Hannovers unterwegs gewesen. „Ich habe mich immer zu den Leuten auf die Bank gesetzt und mit ihnen geredet“, sagt sie. „Das ist die Hauptsache.“ So erfuhren sie, was die Menschen wirklich benötigten - von der Hundeleine über die Unterhose bis zum Vogelkäfig. „Ich organisiere sehr gerne“, sagt Streit. „Das habe ich von meiner Mutter.“

Warum sie all dies tut, kann Annemarie Streit selbst nicht erklären. Seit 90 Jahren lebt sie in dem Haus, in dem sie schon aufgewachsen ist. „Ich habe alles, was ich brauche.“ Doch auch Entbehrungen habe sie kennengelernt - als sie und die Geschwister mit der Mutter vor den Weltkriegsbomben aus Hannover fliehen mussten. Weil der Vater nach dem Krieg noch viereinhalb Jahre in Gefangenschaft war, ging sie arbeiten statt zu studieren: als Schwesternschülerin, als Zahnarzt-Helferin, schließlich die meiste Zeit bei einer Versicherung.

Sie kann viele Geschichten von ihren Begegnungen mit Wohnungslosen erzählen: vom jungen Mann mit bunten Haaren, den alle gernhatten und der an einer Überdosis starb, von den drei Hochzeiten, bei denen sich Verkäuferinnen und Verkäufer des Straßenmagazins „Asphalt“ das Ja-Wort gaben und sie Trauzeugin war. Bis heute widerspricht die 96-Jährige laut, wenn jemand sich abfällig über wohnungslose Menschen äußert. „Ich bin Meisterin im Kontern, wenn jemand blöde Sprüche macht.“

„Die Betroffenen erfahren durch das ehrenamtliche Engagement häufig mehr Akzeptanz und Wertschätzung.“
Anne Wolters vom Diakonischen Werk

In Hannover engagieren sich rund 100 Menschen freiwillig in der Wohnungslosenhilfe der Diakonie. Noch mehr sind es, wenn man andere Träger hinzurechnet wie den hauptsächlich aus Ehrenamtlichen bestehenden Verein „Obdachlosenhilfe Hannover“ oder die Caritas. „Teile unseres Angebots können in dem Umfang ohne ehrenamtliches Engagement nicht geleistet werden“, sagt Anne Wolters vom Diakonischen Werk. Doch wichtiger noch sei eine andere Dimension: „Die Betroffenen erfahren durch das ehrenamtliche Engagement häufig mehr Akzeptanz und Wertschätzung.“

Annemarie Streit duzt die Menschen nicht, die sie in ihrem Engagement kennengelernt hat. Doch sie nennt manche beim Vornamen, immer wieder fallen welche, wenn sie erzählt. Auch Petra, die ihr seit einiger Zeit im Haushalt hilft und der sie eine Arbeitsstelle vermittelte, wie sie erzählt, hat sie im „Mecki“ kennengelernt.

Beim Besuch zum Frühstück in dem Treffpunkt ist sie sich mit ihrem alten Bekannten mit der roten Jacke in einer Sache einig. Er fasst es so in Worte: „Es ist ein ganz besonderes Gefühl, wenn man andere unterstützt.“ Und Annemarie Streit sagt: „Bis ich tot umfalle, wird es wohl so weitergehen.“

epd Landesdienst Niedersachsen-Bremen/Karen Miether