„Eine spektakuläre Überraschung“

Zwei weiblich und eine männlich gelesene Person sitzen im Altarraum einer Kirche vor Publikum.
Bild: Christine Frank / EMA

Wer in die Dreifaltigkeitskirche eintritt, blickt geradewegs auf eine Überraschung: nicht der gekreuzigte Jesus bildet die Mitte des Altarbildes, sondern eine in ein weißes Laken geschlungene Person. Nur die Schulterpartie ist zu erkennen, ein Armansatz, ein Stückchen Bein, überlebensgroß. Eine spektakuläre Überraschung nennt Landesbischof Ralf Meister das Bild von Julia Krahn, das für vier Monate das traditionelle Altarbild ersetzt. Am Mittwochabend diskutierte er zusammen mit Dr. Katja Lembke, Direktorin des Niedersächsischen Landesmuseums, über das Bild und seine Wirkung, moderiert von Dr. Simone Liedtke, Beauftragte für Kirche und Kultur der Landeskirche Hannovers.

Während des Kirchentags hatte die Künstlerin Julia Krahn Frauen, die von sexualisierter Gewalt betroffen sind, eingeladen, sich fotografieren zu lassen – in der Form, wie sie es möchten. „Es war für uns überraschend, wie viele sich klar erkennbar mit ihrem Gesicht gezeigt haben“, sagte Lembke, deren Museum einige der Werke ausstellte. Und eins ist jetzt in der Dreifaltigkeitskirche zu sehen.

Klar war, dass die Bilder von Frauen, die sich derart verletzt zeigen und ein so sensibles Thema in den Blick rücken, eine gute Begleitung brauchen, erklärte Simone Liedtke. Das sei unter anderem durch die Unterstützung des Vereins violeta der Fall gewesen. „Ich bin dankbar, dass die Kirchengemeinde diesem Kunstprojekt einen Ort gegeben hat“, sagte Ralf Meister, „Kunst kann hier etwas schaffen, was Worte nicht vermögen. Sie kann Räume öffnen, die es anderswo nicht gibt.“

Eine als Frau und eine als Mann lesbare Person vor einem halb verhüllten Altarbild.
Bild: epd-bild/Stefan Heinze
Die Künstlerin Julia Krahn und Pastor Axel Kawalla.

Das Altarbild von Julia Krahn ist bis zum 6. Januar in der Dreifaltigkeitskirche zu sehen. Dann wird das bisherige Bild „Christus auf dem Meere“ von Bernhard Plockhorst wieder an seinen angestammten Platz zurückkehren, den es seit 1883 innehat.

Für Katja Lembke ist das Bild eine Herausforderung, es irritiere die Besuchenden der Kirche und entschlüssele sich erst nach und nach. „Statt einem Mann, Jesus, sehen wir eine Frau. Statt einer bekannten Figur eine unbekannte. Hier werden viele Dinge umgekehrt, das macht die Spannung aus.“ Es reihe sich damit in die Bewegung ein, die Gisèle Pelicot in Frankreich mit dem Satz „Die Scham muss die Seite wechseln“ angestoßen hatte: „Dass die Frauen nicht mehr handlungsunfähige Objekte sind, sondern Subjekte, die die Herrschaft über die Tat gewinnen und die ein Stück Selbstermutigung zurückerlangen, aufstehen in dem Sinn – das wünsche ich ihnen jedenfalls. Das sieht man, finde ich, auch in diesem Bild von Julia Krahn: Würde sich die Frau aufrichten, würde sie das Bild sprengen. Und diese Dynamik, diese Kraft, dass das möglich wäre, nehme ich durchaus wahr.“

Auch einige der Zuschauenden meldeten sich zu Wort und beschrieben eine ähnliche Wirkung des Bildes. Eine Intensivierung erfuhr die Diskussion, als sich zwei Besucherinnen zu Wort meldeten. Beide gaben sich selbst als Betroffene von Gewalt zu erkennen. War es in der Kirche während der Diskussion ohnehin schon ruhig gewesen, wurde es bei ihren kurzen Reden ganz still. „Dass hier über die Gewalt gesprochen wird, finde ich gut“, sagte die erste Frau. „Aber ich muss auch sagen, dass in vielen Bereichen die Geschichten der Betroffenen immer noch angezweifelt werden. Das ist jedes Mal ein herber Schlag für diese Personen, die diese Biografien haben. Die Diskussion in der Öffentlichkeit ist das eine, aber die Realität im Umgang mit Gewalt in der Kirche ist eine ganz andere. Wie geht das zusammen – diese wohlgemeinte Diskussion hier über ein künstlerisches Bild und die tatsächlich begangenen Straftaten andererseits?“

Landesbischof Meister antwortete, dass ein einzelnes Bild natürlich nicht das Ende der Auseinandersetzung mit dem Thema sei. „Es ist ein Weg, eine Form, die diese Gemeinde gefunden hat, dem Thema Raum zu geben. Dass es an anderer Stelle noch viel Arbeit gibt, ist unbenommen.“

Eine zweite Frau sprach über die Gewalt, die sie als wohnungslose Frau in Hannover immer wieder erfahre und machte ein überraschendes Angebot: „Die Kirche duldet so viel Gewalt, die Stadt auch. Dabei müsstet ihr uns Betroffenen nur mal zuhören und uns einladen – wir können euch helfen. Wir wissen, wo die Probleme sind, aber ihr schafft es nicht, zu uns herunterzukommen. Wäre das aber nicht euer Auftrag, so wie es Jesus getan hätte?“

Eine direkte Antwort darauf gab es nicht mehr, doch die Sprecherin war darüber nicht traurig: „Sie haben mich ausreden lassen und nicht abgewürgt. Das ist schon alles, was ich mir für heute Abend gewünscht habe.“

Kommentar

Es war ein Abend der Kunstdiskussion, auch etwas Theologie und Gesellschaftsanalyse, bei der manche aus dem Publikum hohes Kulturwissen erkennen ließen. Aber seine Tiefe erhielt der Abend durch die Wortmeldungen der Betroffenen. Sie benannten den Elefanten, der die ganze Zeit im Raum gestanden hatte. Durch sie gewann der Abend eine Schärfe – und auch Bitterkeit. Und dann wiederum auch Glanz und Stärke beim Blick auf den Mut der Frauen, die aufstanden. 
(Christine Frank)

EMA