Steps to remember: „Das Leid war unendlich“

Mehrtägiger Gedenkmarsch erinnerte an Todesmärsche von KZ-Häftlingen
Zwei Menschen stehen vor einer Stele, auf der Todesmarsch steht.
Bild: epd-bild/Dieter Sell

Fast 700 Aktive sind am Donnerstag die erste Etappe eines viertägigen Gedenkmarsches von Bremen nach Sandbostel mitgelaufen. Sie führte bis zum Sonntag vom Denkort Bunker Valentin in Bremen-Farge bis zur niedersächsischen Gedenkstätte Lager Sandbostel.

Eigentlich ist Siegfried Schreiber nicht mehr so gut zu Fuß. Nach zwei Hüft-Operationen sind die Schritte, die er auf den ersten Kilometern des Gedenkmarsches von Bremen nach Sandbostel zurücklegt, auch mit Schmerzen verbunden, körperlichen wie mentalen. Doch das Gedenken an die Menschen, die hier vor 80 Jahren von den Nationalsozialisten auf einen Todesmarsch gezwungen wurden, das ist ihm wichtig. „Das Leid war unendlich“, sagt der 72-jährige ehemalige Radrennprofi aus der DDR im Gehen und mit Tränen in den Augen.

Dem Mann, der früher Mitglied der Nationalmannschaft der DDR-Bahnfahrer war und seit mehr als 35 Jahren in Bremen lebt, ist die Erinnerung an die Todesmärsche so wichtig, dass er sich dazu entschlossen hat, an seinem Geburtstag mitzulaufen. „Das habe ich mir selber zum Geschenk gemacht“, betont er. An der linken Hand hält er sein Rad, auf das er aufsteigen will, wenn die Hüften gar nicht mehr mitmachen wollen.

Mit Siegfried Schreiber sind fast 700 Aktive am Donnerstag die erste Etappe eines viertägigen Gedenkmarsches von Bremen nach Sandbostel mitgelaufen. Sie führt bis zum Sonntag vom Denkort Bunker Valentin in Bremen-Farge bis zur niedersächsischen Gedenkstätte Lager Sandbostel. Die Aktion erinnert an den Todesmarsch Tausender KZ-Häftlinge und Zwangsarbeiter vor 80 Jahren, die im April 1945 auf dieser Route von den Nationalsozialisten in das damalige Kriegsgefangenenlager Sandbostel getrieben wurden. Viele überlebten den gut 80 Kilometer langen Marsch nicht. Hunderte starben unterwegs an Entkräftung oder wurden von den begleitenden Wachmannschaften ermordet.

Menschen auf einem Weg
Bild: Lager Sandbostel
3.000 Menschen nahmen am Gedenkmarsch teil.
Eine große Menge Menschen.
Bild: Polizeidirektion Lüneburg
Reges Interesse bei der Auftaktveranstaltung

„Die Geschichte bewegt mich“, sagt Siegfried Schreiber, der dabei auch an seinen Vater denkt. Der war im Krieg bei der Marine und wurde als Signalgast auf dem Mittelmeer in Italien bei Rapallo abgeschossen. Er laufe in erster Linie mit, weil er sich gegen das Vergessen stemmen wolle, betont Schreiber. Und: „Nie wieder Krieg. Ist man da einmal drin, gibt es kein Zurück.“

Vor 40 Jahren hat es einen ersten Gedenkmarsch gegeben, an dem damals etwa 60 Aktivisten teilnahmen. Die Aktion jetzt steht unter dem Motto „Steps to remember“. Dahinter steht gemeinsam mit Polizei und Bundeswehr ein großes Bündnis von Kommunen, Schulen, Kirchen, Institutionen, Einrichtungen und Vereinen. Initiatorin ist Antje Schlichtmann, Leitende Polizeidirektorin der Polizeiinspektion Verden/Osterholz. „Wir erinnern uns nicht nur mit dem Kopf, sondern mit dem ganzen Körper, Schritt für Schritt“, sagt Bremens Polizeipräsident Dirk Fasse beim Abmarsch.

Die Erinnerung an das, was vor 80 Jahren passiert sei, sei wichtiger denn je, betont zuvor Bremens Bürgermeister Andreas Bovenschulte (SPD). Gerade stünden wieder Demokratie, Menschenwürde und Rechtsstaatlichkeit unter Druck, ruft er den Teilnehmenden zu. „Gegen diese Entwicklung müssen Demokraten ein deutliches Zeichen wie diesen Gedenkmarsch setzen. Man kann nicht am Rande stehen und sich die Entwicklung anschauen, man muss aktiv werden.“ Sagt es und verabschiedet die Teilnehmenden Richtung Sandbostel.

„Ich habe das Gefühl, mit der Teilnahme auch was für die Demokratie, für mein Land zu tun.“
Mitinitiator Christoph Schröder

Langsam kommt der Marsch in Gang, eine kilometerlange Schlange. Viele Jugendliche reihen sich ein, unter ihnen die Berufsschülerinnen Anna (26) und Jody (19). „Wir sind alle sehr happy, dass wir mitlaufen und uns hier tiefergehend informieren können“, sagt Anna im Gehen. Das sei auch nötig, viele junge Leute hätten wenig oder nichts von dem gehört, was damals passiert sei. Und Jody bekräftigt: „Es ist wichtig, laut zu werden, damit es nicht in Vergessenheit gerät.“

Dass der Impuls zu dem Gedenkmarsch von der Polizei ausging, finden hier viele wichtig. Im Nationalsozialismus sei sie ein zentrales Herrschafts- und Terrorinstrument gewesen, heute stehe sie für den Schutz der freiheitlich-demokratischen Grundordnung, sagt Polizeidirektorin Antje Schlichtmann.

Mitinitiator Christoph Schröder von den Berufsschulen in Osterholz-Scharmbeck bei Bremen nennt den Gedenkmarsch beim Start „einen Starkwind gegen das Vergessen“. Dem kann sich Siegfried Schreiber gut anschließen und ergänzt, was die Aktion für ihn persönlich auch bedeutet: „Ich habe das Gefühl, mit der Teilnahme auch was für die Demokratie, für mein Land zu tun.“

Ein Grabstein
Bild: Lager Sandbostel
Insgesamt wurden auf der Strecke drei Stelen zur dauerhaften Erinnerung an den Todesmarsch eingeweiht.

Felix Paul, Beauftragter der Landeskirche für Friedensarbeit

Felix Paul_Friedensarbeit HkD
Bild: Daniel George

Die Menschen lauschen still, als Johann Dücker auf dem Friedhof in Volkmarst seine Geschichte erzählt. Es ist der Halbzeit-Punkt des Gedenkmarsches anlässlich des 80-jährigen Jubiläums des Todesmarsches von Bremen-Farge nach Bremervörde und Sandbostel. 

Knapp 80 Jahre nachdem er als Kind die grausame Behandlung von KZ-Häftlingen auf dem Todesmarsch sah. Er sah einen kilometerlangen Zug von geschwächten Menschen, die sich kaum aufrecht halten konnten. Er wollte ihnen nur Wasser bringen. Doch das wurde ihm verwehrt und das Wasser ausgekippt. Wenig später wird Johann Dücker Zeuge, wie ein Mensch auf dem Hof der Familie, der direkt an der Todesmarsch-Strecke liegt, aus einer Hecke gezogen wird. Der Junge verfolgt, wie der Mensch auf dem Acker in einer Senke mit einem Genickschuss ermordet wird. Die eindrücklichen Schilderungen treiben einem die Tränen in die Augen. 

Fast 80 Jahre nachdem er die Ermordung zweier Häftlinge sah steht Herr Dücker auf dem Friedhof in Volkmarst und erzählt 250 Menschen seine Geschichte. Alle sind gekommen, um in Gedenken an die Opfer des Todesmarsches ein Zeichen zu setzen. Sie nicht zu vergessen. Auf eben diesem Friedhof liegen die zwei unbekannten Häftlinge begraben. Endlich konnte Herr Dücker sie beisetzen. Ihnen eine angemessene Beerdigung ermöglichen.

Vom Grab der zwei Ermordeten ist es nicht weit zum Hof der Dückers. Dort steht seit Jahrzehnten ein Gedenkstein anstatt eines Grabes. Sie wussten lange nicht, wo die Toten verscharrt worden waren. Ein paar Meter weiter wird der Weg nass. Dort steht ein Wassereimer. Er wurde umgekippt.

20 Kilometer an diesem Tag. Die Begegnung in Volkmarst gibt genug mit, um die letzten 10 Kilometer zu füllen. Wie schaffen wir es dem Appell von Herrn Dücker, solch einer Gewaltherrschaft wie damals entschlossen entgegenzutreten? Das ist die Frage, die mich noch weiter beschäftigen wird. Und ein Appell: „Du bist der Unterschied!“.

Dieter Sell / epd Niedersachsen-Bremen