Gewalt gegen Kinder: Aufarbeitung in Elsdorf

Landeskirchenamtspräsident Jens Lehmann bespricht mit dem Kirchenvorstand die nächsten Schritte
An einem langen Tisch sitzt ein Dutzend Menschen und diskutiert miteinander.
Bild: Rebekka Neander

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Einquartierte Heimkinder aus dem Raum Hannover haben in den 1950- und 1960-Jahren im Raum der Kirchengemeinde Elsdorf im Landkreis Rotenburg-Wümme Gewalt erfahren. Darauf weisen Akten hin, die im Archiv sowie auf dem Dachboden der Kirchengemeinde im vergangenen Jahr gefunden worden sind. Wie konnte es zu diesen Gewalttaten kommen, die zu einem Teil auch in den Bereich sexualisierter Gewalt fallen? Wer hat davon gewusst? Und warum war dies so viele Jahre lang weitestgehend unbekannt? Diesen Fragen soll nun eine kirchenexterne Aufarbeitung nachgehen. Jens Lehmann, Präsident des Landeskirchenamtes Hannover, hat den örtlichen Kirchenvorstand, Pastor Volker Klindworth und Superintendent Carsten Stock jetzt in Elsdorf über den neuesten Stand dieser Planung informiert. 

Alle Akten durchgesehen

Die Landeskirche hatte den Fund im September vergangenen Jahres öffentlich gemacht. Jens Lehmann konnte dem Kirchenvorstand jetzt vor allem aktuelle Zahlen überbringen: Nachdem alle gefundenen Akten aus dem Gebäude in Elsdorf an die Fachstelle sexualisierte Gewalt in Hannover übergeben worden waren, konnte dort Julia Nortrup, Fachkraft für Aufarbeitung, den Bestand sichten. Er gibt Auskunft über insgesamt 338 Heimkinder, die in Elsdorf untergebracht waren. Laut Aktenlage haben 17 davon Misshandlungen erfahren, die nach Auffassung der Landeskirche in den Bereich sexualisierter Gewalt gehören. Lehmann berichtete weiter, dass das Kolleg als Beschlussgremium im Landeskirchenamt bereits grundsätzlich dem Antrag der Kirchengemeinde und des Kirchenkreises Bremervörde-Zeven gefolgt sei, eine umfängliche externe Aufarbeitung der kirchlichen Versäumnisse zu beauftragen. 

Die Fachstelle habe daraufhin diesen Auftrag ausgeschrieben, um Fachleute mit den notwendigen Kompetenzen für diese wissenschaftliche Arbeit verpflichten zu können. Der endgültige Beschluss für die Auftragsvergabe stehe nun zeitnah bevor; das gegenwärtig in Aussicht stehende Institut könne den Start der Arbeit voraussichtlich gegen Ende des Jahres zusagen. Insgesamt, so Lehmann, müsse man mit einer Dauer von ein bis zwei Jahren für die vollständige Untersuchung rechnen. Über die endgültige Auftragsvergabe entscheidet das Kolleg im Landeskirchenamt voraussichtlich Anfang Juli. 

Dank an den Kirchenvorstand

Möglich gemacht hat diese geplante Aufarbeitung der Kirchenvorstand der Kirchengemeinde Allerheiligen Elsdorf. Im Kontext der sogenannten ForuM-Studie zu den Ursachen sexualisierter Gewalt in der evangelischen Kirche (veröffentlicht im Januar 2024) hatte der Kirchenkreis Bremervörde-Zeven über einen anonymisiert gemeldeten Fall im eigenen Bereich erfahren. Es folgte die Aufforderung an die Gemeinde, nach möglichen weiteren Akten in den Gebäuden vor Ort zu forschen. Der Kirchenvorstand wurde fündig: Neben den Akten im Archiv der Gemeinde im Keller fanden sich weitere Akten zu Heimkindern auch auf dem Dachboden. 

Der Kirchenvorstand schilderte seinen Gästen aus Hannover eindrücklich, wie bedeutsam sie den Fund wahrgenommen haben. Es sei nach einem ersten Durchblättern schnell klar gewesen, dass das Material umgehend in kompetente Hände außerhalb der Kirchengemeinde und der dörflichen Strukturen gelangen müsse, um auch wirklich alle Informationen aus den Kindes-Briefen und Jugendamtsakten herauslesen zu können. Der gesamte Aktenbestand ging dann an die Fachstelle sexualisierte Gewalt der Landeskirche in Hannover.

Damit, betonte Jens Lehmann, habe der Kirchenvorstand eine enorme Verantwortung im Dienste der von Gewalt betroffenen Personen übernommen. Dies beeindrucke ihn sehr; die Landeskirche sei dem örtlich ja sehr vernetzten und verankerten Gremium zu großen Dank verpflichtet. 

Nicht nur Zustimmung

Lehmann bekräftigte die Entscheidung des Kirchenvorstandes auch vor dem Hintergrund der Angst vieler Familien in dem Dorf, sie gerieten nun unter Generalverdacht, da auch sie seinerzeit Heimkinder aufgenommen hätten. "Die Aufarbeitung dient allein der Suche nach Versäumnissen und Fehlern innerhalb kirchlicher Strukturen", betonte Lehmann. Es gehe in keinem Fall darum, in die Privatsphäre der Familien einzudringen. 

Klindworth und Stock berichteten überdies von den zahlreichen Veranstaltungen, die es inzwischen im Bereich der Kirchengemeinde und des Kirchenkreises zu diesem Thema gegeben habe. Dies habe in der Dorfgemeinschaft viel aufgewühlt. "Viele erinnern sich an die im Dorf damals untergebrachten Kinder - und manchem fällt heute auf, dass sie zwar oft sichtbar waren. Aber beim Spielen waren sie nie dabei." Dies stimme durchaus nachdenklich. 

Mitglieder des Kirchenvorstandes berichteten auch von klarer Kritik an der Entscheidung, die Akten nach Hannover gegeben zu haben. "Warum habt Ihr das nicht einfach weggeworfen?", sei eine durchaus wiederholt gehörte Frage. 

Lehmann zeigte sich sehr beeindruckt von dem Gehörten und sicherte allen Beteiligten Unterstützung zu - auch während des bevorstehenden Weges während der Aufarbeitung. 

Der Kirchenvorstand vernahm dies mit Erleichterung. Das Gremium indes sieht sich vorerst gut gewappnet. Man habe gerade die Grundschulung zur Prävention sexualisierter Gewalt absolviert und erlebe den notwendigen Kulturwandel auch an vielen kleinen Stellen, betonte Pastor Klindworth: "Vor Jugendfreizeiten ist es jetzt selbstverständlich, dass wir über Schutzkonzepte sprechen." Nach aller berechtigten Kritik in der Vergangenheit merke man: "Jetzt wird gut hingesehen." 

Rebekka Neander l EMA