Zwischen Müllmafia und Windkraft: Nachhaltigkeit auf dem Kirchentag

eine Gruppe von Menschen in einem Raum unterhaelt sich
Bild: Gunnar Müller / Sprengel Hildesheim-Göttingen

„Müllmafia“ steht in schlichten Buchstaben auf einer Tür, hinter der es nach Kaffee und Verantwortung riecht. In einem nüchternen Büro sitzen Matthias Heldenreich und Bella, beide mit leuchtend oranger Basecap, über Papieren und Plänen gebeugt. Hier, in einem Hinterzimmer der Hannover Messe, läuft alles zusammen, was andere achtlos wegwerfen. Und das ist beim Evangelischen Kirchentag weniger, als man vielleicht denkt.

„Restmüll ist deutlich weniger geworden“, sagt Heldenreich. „Aber die Leichtverpackung – die nimmt zu.“ Rund 60 Freiwillige kümmern sich um Müllvermeidung und -entsorgung. „Nach dem Abend der Begegnung waren wir in der Nacht direkt im Einsatz.“ Zwei Müllpressen stehen an strategischen Punkten auf dem Gelände bereit. Der Müll? Nur das sichtbarste Symbol eines tiefgreifenden Wandels. Denn Nachhaltigkeit ist beim Kirchentag längst mehr als ein Buzzword. Sie ist Prinzip, gelebte Überzeugung – und eine logistische Meisterleistung.

Vera Steinberg führt gemeinsam mit Lisa Rheinheimer vom Ständigen Ausschuss Umwelt – kurz „StAU“ – interessierte Gäste hinter die Kulissen. Gleich zu Beginn, direkt neben dem Kirchentagsshop, wird deutlich: Auch ein Andenken will nachhaltig gewählt sein. „Der Großteil der Produkte ist fair gehandelt oder in Europa hergestellt“, sagt Vera Steinberg. Neben Umweltaspekten stehe auch soziale Verantwortung im Fokus. „Und was übrigbleibt, wird nicht weggeworfen, sondern upgecycelt – zum Beispiel zu Taschen aus alten Schals.“ Auch das Versandmaterial kommt plastikfrei daher. Vieles, was früher gedruckt wurde, findet sich heute in der Kirchentags-App. Digitalisierung als Ausdruck von Schöpfungsverantwortung? Beim Kirchentag keine Floskel, sondern gelebte Realität.

Der Rundgang führt weiter über das Messegelände – sonnig, aber nicht mehr so heiß wie an den fast sommerlichen Tagen zuvor. Unter einem Schatten spendenden Baum sprechen Lisa Rheinheimer und Vera Steinbergüber das Thema, das alles durchzieht: den Klimawandel. „Hitze, Gewitter, Hagel – dafür brauchen wir Sicherheitskonzepte“, erklärt Vera Steinberg. „Es geht um Schattenplätze, Trinkwasserspender, Kühlanlagen. Auch Eichenprozessionsspinner sind ein Thema – die Sicherheit der Menschen geht vor.“ Es ist einer dieser Momente, die bleiben. Weil er zeigt: Nachhaltigkeit endet nicht bei Mehrwegbechern. Sie beginnt mit der Frage, wie wir Gemeinschaft verantwortungsvoll gestalten – gerade angesichts der Klimakrise.

In der Helfendenverpflegung – einem riesigen Gebäude mit Hofbräuhaus-Charme und abertausenden Sitzplätzen – klappert das Geschirr, erste Helfende sitzen beim Mittagessen. Rund 4600 Freiwillige, viele davon Pfadfinder*innen, können hier versorgt werden und zur Ruhe kommen. Einige von ihnen opfern bis zu drei Wochen Urlaub. „Die Verpflegung ist auch eine Form der Wertschätzung“, sagt Lisa Rheinheimer. Regional, saisonal, vegetarisch oder vegan – Fleisch gibt’s nur ausnahmsweise. „Wir sparen damit rund ein Drittel CO₂ im Vergleich zur konventionellen Großverpflegung.“ Übriggebliebenes wird weiterverarbeitet oder geht – wenn möglich – an die Tafeln. Wer hier arbeitet, tut das im Zwei-Schicht-System – täglich rund 40 Personen. Für viele ist das mehr als Helfen: ein Beitrag zu einer Gemeinschaft, die mit gutem Beispiel vorangeht.

In Halle 5 wird Nachhaltigkeit konkret – bei den Ständen der Aussteller. Auch hier schaut der Kirchentag genau hin. „Wir geben Hinweise – etwa darauf, auf Teppiche zu verzichten, weil sie meist weggeschmissen werden“, sagt Lisa Rheinheimer. Auch bei Giveaways, Flyern und Rollups gilt: Braucht es das wirklich? Einwegbecher? Gibt’s nicht. Getränke? Nur in Mehrwegflaschen. Es sind viele kleine Entscheidungen, die in der Summe einen Unterschied machen – und Vorbildcharakter entfalten.

In Halle 16 wird es futuristisch. Hinter der Bühne leuchten große Bildschirme, gegenüber sitzt das Technikteam an einem riesigen Schaltpult. Die hybride Halle macht es möglich: Vorträge und Diskussionen mit Menschen aus aller Welt, ohne dass sie dafür um die halbe Welt reisen müssen. „Auch hier geht es um den Fußabdruck“, sagt Vera Steinberg. Und um die Frage, wie man global denkt – und dennoch lokal handelt.

Draußen, hinter einem Messegebäude, stehen sie aufgereiht: 13 große Lastenräder, 34 Fahrräder, zwei Anhänger. Seit Mittwoch haben die Radkuriere rund 2800 Kilometer und 6200 Kilogramm Gepäck bewegt – ohne Benzin, ohne Lärm, ohne Emissionen. Ein stiller Heldentrupp, der täglich über das Gelände rollt. Ergänzt durch einige E-Fahrzeuge – bereitgestellt von VW –, doch getragen vom Prinzip: Was wir selbst bewegen können, das sollen wir auch selbst bewegen. Bereits seit 1983 gehört zum Kirchentagsticket ein Ticket für den ÖPNV dazu. Auch Gäste oder Referent*innen werden in erster Linie mit dem öffentlichen Nahverkehr abgeholt. Oder – wie in Halle 16 dazugeschaltet.

Natürlich ist nicht alles perfekt. Ein Großevent bleibt ein Großevent. Der Kirchentag kann nur dort stattfinden, wo auch die Rahmenbedingungen stimmen – kirchlich wie logistisch. Die Zertifizierung, sagt Lisa Rheinheimer, sei „relativ aufwendig“, lohne sich aber. „Es geht nicht nur um den Kirchentag, sondern auch um unsere Büros in Fulda. Wir nehmen das ernst.“ Photovoltaik, Windkraftbeteiligungen, eigene Stromkompensation – ein Prozess, der nie endet.

Vielleicht das Bild eines Pfadfinders mit „Ich helfe“-Tuch, der auf einem Lastenrad durch die Hitze fährt. Oder das Büro der Müllmafia, wo Verantwortung nicht nur auf dem Papier steht. Vielleicht auch eine Frage, die im Raum stehen bleibt:

Wie viel Wandel sind wir bereit mitzutragen – nicht nur für fünf Tage Kirchentag, sondern für jeden einzelnen Tag danach?

Gunnar Müller / Sprengel Hildesheim-Göttingen