Zum vierten Mal in Folge hat sich die 26. Landessynode dem Komplex sexualisierte Gewalt mit einem Schwerpunkt in ihrer Tagesordnung gewidmet. Und doch war dieser Mittwoch eine Premiere: Der Vormittag gehörte - in nicht öffentlicher Sitzung - ausschließlich den Berichten jener Menschen, die im Bereich der Landeskirche sexualisierte Gewalt erlitten haben. Am Nachmittag berichteten Jens Lehmann, Präsident des Landeskirchenamtes, und Mareike Dee, Leiterin der landeskirchlichen Fachstelle sexualisierte Gewalt, zum Stand der Dinge.
Rund ein Dutzend Personen waren am Vormittag der öffentlichen Einladung des Synodenpräsidiums gefolgt und trugen entweder persönlich oder mittels eingereichter Text- bzw. Audio-Beiträge ihre Geschichten, jedoch auch ihre Vorwürfe und zum Teil deutliche Kritik gegenüber der Landeskirche vor.
Das Präsidium hatte sich nach umfänglicher Beratung mit betroffenen Personen sowie mit Fachleuten dazu entschlossen, die Öffentlichkeit für diesen Teil des Tages auszuschließen. Damit sollten auch jene Personen Ermutigung erfahren, die nicht in der Öffentlichkeit auftreten möchten. Die dabei gesammelten Erfahrungen mit diesem Format, das durchaus Kritik auch aus Kreisen betroffener Personen erfuhr, wird die 26. Landessynode ihrem nachfolgenden Gremium übermitteln.
Bericht des Landeskirchenamts
Lehmann gab in seinem Bericht zu Beginn einen dichten Einblick in den "Arbeitsmodus", in dem sich die Landeskirche knapp zwei Jahre nach Vorstellung der bundesweiten ForuM-Studie zu sexualisierter Gewalt in der Evangelischen Kirche befinde. "Er beschreibt, wie wir die Lehren aus dem geschehenen Unrecht, das so viel individuelles Leid verursacht hat, systematisieren, in generelle Regeln und Aufgabenlisten übersetzen und diese Lehren so für eine Verwaltung und unser kirchliches Leben handhabbar machen."
Lehmann markierte dies ausdrücklich als Kontrast zwischen dem individuellen Unrecht des Vormittags und jetzt "fast schon katalogartigen Darstellung der Handlungsschritte" am Nachmittag. "Ich sehe das Aktenstück und das, was darin beschrieben ist, aber nicht als Kontrast, sondern als die notwendige Folge aus den bitteren Erkenntnissen, die wir aus den Aufarbeitungsstudien und den Workshops zu sexualisierter Gewalt in unserer Kirche ziehen mussten."
Lehmann dankte den Gästen des Vormittags, die sich trotz "schlimmster Erfahrungen mit der Kirche" hier und auf vielen anderen Wegen einbrächten und dazu beitrügen, dass sich in "unserer Kirche etwas grundlegend ändert und wir wirklich zu einem sicheren Ort werden, an dem Menschen keine sexualisierte Gewalt erleiden".
Und weiter: "Ich bin dankbar für jede Empfehlung, die uns erreicht, für jeden Workshop, der sich mit dem Thema Macht und sexualisierte Gewalt befasst, für jede Aufarbeitungsstudie, die uns Hinweise gibt, wie wir mit sexualisierter Gewalt umgehen sollten und wie sie verhindert werden kann."
Lehmann brachte das Aktenstück 99c ein, eine Fortschreibung vorangegangener Tätigkeitsberichte des Landeskirchenamtes. Es sortiert und priorisiert mehr als 150 Empfehlungen, die sich für die Landeskirche aus den Studien und Aufarbeitungsberichten sowie internen Veranstaltungen der vergangenen zwei Jahre ergeben hätten. Daraus hat das Landeskirchenamt 9 Maßnahmenfelder identifiziert. Neben den bekannten Handlungsbereichen Prävention, Intervention, Aufarbeitung sowie Anerkennung und Unterstützung kommen nun verschiedene Handlungsdimensionen hin, die "uns besonders wichtig sind", wie die Betroffenenorientierung oder der Umgang mit Macht. "Vorangestellt haben wir als Maßnahmenfeld die Überarbeitung der landeskirchlichen Grundsätze, weil an dieser Stelle aus Empfehlungen Pflichten werden."
Das Aktenstück, so Lehmann, zeige schon durch seine textliche Gestalt das Streben nach Systematisierung. "Ohne auch nur ein Wort zu lesen, macht das Erscheinungsbild mit seinen vielen Abkürzungen und Tabellen deutlich, wo wir sind: Wir sind im Arbeitsmodus!"
Bericht der Fachstelle
Mareike Dee, Leiterin der Fachstelle sexualisierter Gewalt, betonte im Eindruck des Vormittags, dass die gehörten Schicksale diese betroffenen Menschen ihr Leben lang begleiteten. Sie rief die Mitglieder der Synode auf, die Errungenschaften der zurückliegenden Jahre nicht zurückzudrehen.
Sie berichtete sehr anschaulich, vor welchen Herausforderungen das Team der Fachstelle zuweilen stehe. Anhand eines sichtbar angegriffenen Aktenordners demonstrierte sie die Schwierigkeiten, die beispielsweise bei der Digitalisierung von Akten zu überwinden seien. Ein automatisiertes Scannen beispielsweise sei bei dem früher verwendeten, sehr dünnen Durchschlagpapier nicht möglich.
Die Leiterin der Fachstelle kündigte an, dass die angekündigten Aufarbeitungsprozesse für die Pflegekinder in Elsdorf sowie für die geistliche Gemeinschaft der "Communität Koinonia" Anfang des Jahres beginnen könnten; beide Verträge seien "unterschriftsreif".
Dee fasste für die Mitglieder der endenden 26. Landessynode, deren Legislaturperiode mit diesem Jahr endet, noch einmal zusammen, wie viele entscheidende Fortschritte der Landeskirche die Synode im Kulturwandel gegen sexualisierte Gewalt auf den Weg gebracht habe.
Landesbischof: "Der Weg wird immer zu lang und zu zäh sein"
Landesbischof Ralf Meister richtete am Nachmittag sein Statement vor allem an die noch im Tagungsraum verbliebenen betroffenen Personen. Das am Vormittag Gehörte sei für ihn "schmerzhaft, bedrückend und beschämend". Er erkenne an, dass - egal, was die Landeskirche unternehme und beschließe - für betroffene Personen der Weg "immer zu lang, immer zu zäh" sein werde. Gleichwohl gebe es für diese Prozesse "keine Blaupause", auch bei keinem anderen Verband. "Wir bleiben eine lernende Organisation", auch wenn dies manchen zu langsam erscheine, "sind wir offen und willig dazu".
Diakonisches Werk kündigt Gesprächsformat für Betroffene an
In der anschließenden Aussprache ging es vor allem um die nächsten konkreten Schritte, die identifizierten Bedarfe zu erfüllen. Betroffene Personen aus dem Bereich der Heim- und Erziehungsstätten, die an diesem Tag trotz deutlicher Kritik nicht vor dem Plenum der Landessynode sprechen durften, erhielten hier Antwort: Hans-Joachim Lenke, Vorstandssprecher des Diakonischen Werkes der evangelischen Kirchen in Niedersachsen (DWIN), kündigte für das kommende Jahr ein spezielles Gesprächsformat für Betroffene an. Dies sei gegenwärtig in Vorbereitung.
Das Landeskirchenamt erhielt von der Synode den Prüfauftrag, für die Fachstelle ein sach- und fachgerechtes System zur Erfassung von Melde- und Begleitfällen zu finden. Die Fachstelle ihrerseits soll ein Konzept erarbeiten, um die von den Kirchengemeinden und -kreisen sowie den kirchlichen Einrichtungen verlangten Schutzkonzepte einheitliche Standards vorzuschreiben.
Erklärung der Landessynode
Matthias Kannengießer, Präsident der 26. Landessynode, trug im Anschluss an die Berichte von Landeskirchenamt und Fachstelle eine gemeinsame Erklärung der Landessynode vor. „Heute Vormittag haben wir als Landessynode die Schilderungen betroffener Menschen gehört. Sie haben uns sehr bewegt. Sie verändern uns, jede und jeden vor dem Hintergrund der jeweils eigenen Geschichte und Erfahrungen." Und weiter: "Am Ende unserer Amtszeit übergeben wir diese zentrale Aufgabe an die 27. Landessynode. Jede und jeder von uns nimmt zudem diesen Auftrag mit in ihren und seinen jeweiligen Wirkungsbereich.“