Missbrauchsbetroffene sprechen erstmals direkt vor Kirchensynode
Erstmals haben Betroffene sexualisierter Gewalt Rederecht vor der hannoverschen Landessynode erhalten. Einige von ihnen kritisierten, dass die Öffentlichkeit sowie Betroffene aus diakonischen Einrichtungen bei der Anhörung nicht zugelassen waren.
Hannover. Führende Kirchenvertreter haben am Mittwoch bei der Tagung der evangelischen Landessynode in Hannover erneut Versäumnisse im Umgang mit sexualisierter Gewalt in der Kirche eingeräumt. Zuvor hatten unter Ausschluss der Öffentlichkeit erstmals Betroffene ein direktes Rederecht vor dem Kirchenparlament erhalten. Landesbischof Ralf Meister bedankte sich für ihre Berichte und sagte, er verstehe, dass die Kirche aus Sicht der Betroffenen nicht konsequent genug handele. Der Weg sei gesäumt von Versäumnissen. Dies sei „schmerzhaft, bedrückend, beschämend“.
Die Betroffenen träfen auf eine Institution, in der sie Leid erlebt hätten, sagte Meister. Es gebe keine Blaupause für einen richtigen Umgang mit dem Thema. „Aber wir sind willig und offen, weiter zu lernen.“ Die hannoversche Landeskirche ist mit mehr als 1.200 Gemeinden zwischen dem Landkreis Göttingen und der Nordsee die größte evangelische Landeskirche in Deutschland.
Der Präsident des Landeskirchenamtes, Jens Lehmann, sagte, die Landeskirche stehe vor der Veröffentlichung eines umfassenden „Maßnahmenplanes Sexualisierte Gewalt“, der bei der kommenden Frühjahrssynode vorgestellt werden solle. Rund 150 Hinweise und Empfehlungen seien in das Papier bislang eingeflossen.
Konkret nannte Lehmann eine Übernahme der Anerkennungsrichtlinie der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), die im Dezember bevorstehe. Sie soll im Januar in allen 20 Landeskirchen und 17 Diakonieverbänden in Kraft treten. Die Richtlinie sieht einheitliche Leistungen vor, die von der Schwere der Tat und ihren Spätfolgen abhängen. Sie setzt sich aus einer individuellen Zahlung ohne Obergrenze und einer pauschalen Leistung in Höhe von 15.000 Euro zusammen, sofern die Tat nach heutigen Kriterien strafbar war.
Am Vormittag hatten laut Synodenpräsident Matthias Kannengießer sechs Missbrauchsbetroffene aus Niedersachsen direkt zu den Synodalen gesprochen. Zudem wurden vier Berichte verlesen und einer als Audio abgespielt. Einige Betroffene hatten schon vor der Synodentagung kritisiert, dass die Anhörung unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfand. Kannengießer betonte demgegenüber, es habe Personen gegeben, die sich ausdrücklich dafür bedankt hätten, dass das Plenum nicht öffentlich gewesen sei.
In einer gemeinsamen Erklärung zeigte sich die Synode dankbar für die Berichte. „Was sie gesagt haben, geht nicht verloren“, heißt es in dem Papier. Das Kirchenparlament sei sich des Versagens der Kirche bewusst. Die Synode übernehme Verantwortung für Versäumnisse und Strukturen, die unsägliches Leid ermöglicht hätten und weiterhin ermöglichten. Deshalb wolle man sich nach Kräften für Veränderungen einsetzen: „Weg vom Nichtsehen zum Sehen, vom Nichthören zum Hören und vor allem vom Nichthandeln zum Handeln.“ Dafür sei die Perspektive der Betroffenen wichtig.
Die Betroffene Kerstin Krebs sagte im Anschluss an ihren zehnminütigen Vortrags dem Evangelischen Pressedienst (epd), sie halte an ihrer Kritik an den Rahmenbedingungen fest. „Die waren nicht traumasensibel und schlecht.“ Die Betroffenen konnten vor der Synode einzeln und auf Wunsch mit einer Begleitperson sprechen. Krebs wertete das als Versuch der Isolation. Zugleich habe sie sich „in Teilen wahrgenommen“ gefühlt, erläuterte sie.
Auch der Betroffene Horst E. sagte, er habe sich von der Synode „gehört“ gefühlt. Er habe das Kirchenparlament um eine Schweigeminute für Betroffene gebeten, die infolge ihrer Missbrauchserfahrungen Suizid verübt haben. Dass alle Synodalen aufgestanden seien, habe ihm das Gefühl gegeben, dass sein Bericht „bezeugt“ würde. Dies sei für ihn wichtig, weil er stets die Erfahrung gemacht habe, dass seinen Erfahrungen kirchlicherseits nicht geglaubt worden sei oder diese geleugnet worden seien. Zugleich äußerte E. die Erwartung, „dass die Synode begreift, dass sie Macht und Verantwortung hat, etwas für die Betroffenen zu bewegen“.
Katharina Kracht von der Initiative „Vertuschung beenden“ sagte, sie erkenne zwar die guten Absichten der Synode an. Jedoch zeige die Landeskirche eklatante Schwächen bei der Dokumentation von Missbrauchsfällen und bei der Kommunikation mit Betroffenen. Sie forderte, die Aufarbeitung müsse fortan von externen Stellen übernommen werden.
Betroffene aus Einrichtungen der Diakonie, etwa Kinderheimen, zeigten sich enttäuscht, kein Rederecht vor der Synode erhalten zu haben. Das Präsidium der Synode hatte argumentiert, die Synode habe für die organisatorisch und rechtlich von der Landeskirche unabhängige Diakonie keine Entscheidungsbefugnisse und wolle den Betroffenen nicht sagen müssen, sie sei für sie nicht zuständig. Hans-Joachim Lenke, Vorstandssprecher des Diakonischen Werkes der evangelischen Kirchen in Niedersachsen, kündigte für das kommende Jahr ein spezielles Gesprächsformat für diese betroffenen Personen an. Dies sei gegenwärtig in Vorbereitung.