„Wir müssen wachsam bleiben“

Antisemitismusbeauftragter Wegner über das Erstarken rechter Denkmuster

Zur Person

Der evangelische Theologe Gerhard Wegner wird am 4. September offiziell als Landesbeauftragter gegen Antisemitismus und für den Schutz jüdischen Lebens in Niedersachsen eingeführt. Er hat das Ehrenamt seit Februar inne. Wegner hat die Nachfolge von Franz Rainer Enste angetreten, der das damals neu geschaffene Amt von November 2019 gut drei Jahre lang bekleidet hatte.

Der Professor für Praktische Theologie, Wegner, leitete zuvor bis 2019 das Sozialwissenschaftliche Institut der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD). Er studierte in Göttingen und im ostafrikanischen Nairobi Theologie und wurde dann Gemeindepastor in Celle und Springe bei Hannover.

1991 wurde er Gründungsgeschäftsführer der evangelischen Hanns-Lilje-Stiftung, dann Beauftragter der Kirche für die Expo 2000 und später Leiter des Kirchlichen Dienstes in der Arbeitswelt in der hannoverschen Landeskirche. Von Oktober 2004 an bis zu seinem Ruhestand leitete er das Sozialwissenschaftliche Institut mit Sitz in Hannover.

Der Landesbeauftragte ist der zentrale Ansprechpartner für die jüdischen Verbände in Niedersachsen sowie für die dort lebenden Menschen jüdischen Glaubens. Zu seinen Aufgaben gehört die Unterstützung der Interessen der jüdischen Verbände in Richtung der Landesregierung. Er entwickelt Empfehlungen zum Umgang mit Antisemitismus und erstellt jährlich einen Bericht über Antisemitismus und dessen Bekämpfung in Niedersachsen.

epd Niedersachsen-Bremen

Hannover. Schon seit einem halben Jahr ist Gerhard Wegner Landesbeauftragter gegen Antisemitismus und für den Schutz jüdischen Lebens in Niedersachsen. Am 4. September wird der Theologe von Justizministerin Kathrin Wahlmann (SPD) offiziell in das Ehrenamt eingeführt. Im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd) führt Wegner aus, warum sich in Deutschland viele Menschen jüdischen Glaubens bedroht fühlen und Antisemitismus kein Randphänomen ist, sondern sich quer durch die Gesellschaft zieht.

Herr Wegner, was lehrt die Affäre um die antisemitischen Flugblätter im Schulranzen des heutigen bayerischen Vizeministerpräsidenten Hubert Aiwanger?

Wegner: Sie zeigt, welcher Grad von Antisemitismus in Schulen und Gymnasien in den 1980er-Jahren möglich war – nicht nur in Bayern. So absurde und auch eklige Formen des Gymnasiastenhumors gab es damals, das weiß ich aus eigener Erinnerung. Wichtig ist aber der heutige Umgang der Brüder Aiwanger mit diesem furchtbaren Flugblatt aus ihrem Haus. Anstatt sich Hinzustellen und in angemessener und wirklich glaubwürdiger Weise für diese unsägliche und auch eklige Schrift zu entschuldigen, wird verschleiert, wie es dazu gekommen ist. Das finde ich absolut unbefriedigend. Deshalb müsste Aiwanger eigentlich zurücktreten, wenn ihn Markus Söder schon nicht entlassen will.

Sie sind seit einem halben Jahr Antisemitismusbeauftragter des Landes Niedersachsen. Was ist der krasseste Fall, den Sie in dieser Zeit erlebt haben?

Wegner: Was mich am meisten bewegt hat, ist das Verhalten der Justiz in Braunschweig in den vergangenen Jahren gegenüber einem stadtbekannten Antisemiten in Braunschweig. Der hatte Journalisten als Judenpack beschimpft, das man vernichten müsste. Doch trotz dieser Aussagen hatte die Staatsanwaltschaft zwei Ermittlungsverfahren eingestellt, weil man angeblich nichts gegen diesen Mann machen konnte. Jetzt ist nach vielen Protesten wieder ein Ermittlungsverfahren eingeleitet worden in der Hoffnung, dass man den Mann doch noch belangen kann.

Was sagt diese Geschichte über den Umgang der Justiz mit dem Antisemitismus?

Wegner: Der Braunschweiger Fall zeigt, dass wir noch Lücken in der Gesetzgebung haben. Man darf sich in der Öffentlichkeit antisemitisch äußern. Das heißt, Antisemitismus ist zwar geächtet, aber nicht verboten, auch wenn man niemanden verhetzen oder beleidigen darf. Das finde ich schwer erträglich. Im Grunde müsste Antisemitismus generell untersagt werden. Es müsste klarer gefasst werden, was antisemitisch ist und was nicht. Da müsste es auch für die Schulen mehr Klarheit geben. Wir sind da dran.

Nun gibt es in der allgemeinen Gesellschaft wie auch in der jüdischen Community graduell unterschiedliche Auffassungen, wo der Antisemitismus anfängt, etwa in der Kritik an Handlungen des Staates Israel. Da gibt es, grob gesagt, eine eher alarmistische Richtung und eine eher moderate Richtung. Wie erleben Sie diese Diskussionen?

Wegner: Die große Mehrheit deutscher Bürgerinnen und Bürger, die Juden sind, fühlen sich bedroht. Das muss man konstatieren. Es stehen auch nicht ohne Grund Polizeiwagen vor jüdischen Einrichtungen – und das schon lange. Schon von daher reagieren jüdische Mitbürgerinnen und -bürger sehr sensibel auf schon kleinste Anzeichen von Antisemitismus. Das muss man akzeptieren. Es gibt viele Punkte, bei denen man sich selbst hinterfragen muss, etwa, wenn gesagt, wird, in der NS-Zeit hätten die Deutschen die Juden umgebracht. Genau genommen haben die Deutschen damals Deutsche umgebracht, viele Deutsche jüdischen Glaubens. Wenn man die Juden gedanklich von den Deutschen separiert, stellt man schon die Weichen falsch – selbst, wenn man nichts Böses im Schilde führt.

Was haben Sie sich in dieser Wahlperiode als Wichtigstes vorgenommen?

Wegner: Ich möchte dazu beitragen, für Antisemitismus zu sensibilisieren – und zwar möglichst auf allen Ebenen. Das fängt bereits mit Sprach- und Denkschablonen an. Nehmen Sie etwa die Pharisäer, die in der Bibel auftauchen. Sie werden als verlogene Gestalten vorgestellt. Dabei waren es höchst angesehene Gelehrte, die die damalige Gesellschaft zusammengehalten haben. Das waren hochanständige Leute. Da haben unsere Kirchen lange Zeit dazu beigetragen, diese Stereotypen zu befördern. Zum Glück ist eine Menge passiert, diese Dinge aufzuarbeiten.

Ist der Antisemitismus verglichen mit der Schulzeit Hubert Aiwangers, also den 1980er-Jahren, eher rückläufig oder sogar ein wachsendes Problem?

Wegner: Wenn man die Untersuchungen quer liest, gibt es heute etwa vier Prozent der deutschen Bevölkerung, die als harter Kern der Antisemiten gelten können. Das sind Menschen, die behaupten, Juden würden lügen und betrügen sowie die gesamte Welt beherrschen. Die Hälfte von diesen vier Prozent meinen sogar, die Juden müssten sich vorsehen, sonst würden sie „einen aufs Dach bekommen“, sie sind also gewaltbereit.

Das überlappt sich mit rechtsradikalen Überzeugungen. Etwa 15 Prozent bewegen sich in einem Dunstkreis und finden gut, wenn schlecht über Juden geredet wird. Etwa dreißig Prozent der Bevölkerung meinen, dass endlich ein Schlussstrich unter die Diskussion um die Juden und die Verbrechen der NS-Zeit gezogen werden sollte. Das halte ich für sehr gefährlich, weil es judenfeindlicher Rede Tür und Tor öffnen könnte.

Und dann gibt es noch den israelbezogenen Antisemitismus, der wächst. 55 Prozent der Deutschen behaupten, Israel würde die Palästinenser genauso behandeln, wie die Deutschen in der NS-Zeit mit den Bürgerinnen und Bürgern jüdischen Glaubens verfahren sind. Das ist in mehrfacher Hinsicht furchtbar falsch – und da muss man dagegenhalten.

Derzeit beobachten wir ein unheimliches Erstarken rechtsradikaler Parteien wie der AfD. Gehört sie auch zu den Antisemiten?

Wegner: Die Partei behauptet von sich, nicht antisemitisch zu sein. Sie gibt sich in Niedersachsen einen betont bürgerlichen Anstrich. Doch wenn ich mir Äußerungen ihres Wortführers Björn Höcke anschaue, habe ich da sehr große Zweifel. In jedem Fall ist die AfD rechtsradikal, auch rechtsextremistisch. Und man kann schon das Gefühl bekommen, als könnten sich manche Konstellationen der deutschen Geschichte wiederholen. Ohne Frage: Wir müssen wachsam bleiben.

Zur Person

Der evangelische Theologe Gerhard Wegner wird am 4. September offiziell als Landesbeauftragter gegen Antisemitismus und für den Schutz jüdischen Lebens in Niedersachsen eingeführt. Er hat das Ehrenamt seit Februar inne. Wegner hat die Nachfolge von Franz Rainer Enste angetreten, der das damals neu geschaffene Amt von November 2019 gut drei Jahre lang bekleidet hatte.

Der Professor für Praktische Theologie, Wegner, leitete zuvor bis 2019 das Sozialwissenschaftliche Institut der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD). Er studierte in Göttingen und im ostafrikanischen Nairobi Theologie und wurde dann Gemeindepastor in Celle und Springe bei Hannover.

1991 wurde er Gründungsgeschäftsführer der evangelischen Hanns-Lilje-Stiftung, dann Beauftragter der Kirche für die Expo 2000 und später Leiter des Kirchlichen Dienstes in der Arbeitswelt in der hannoverschen Landeskirche. Von Oktober 2004 an bis zu seinem Ruhestand leitete er das Sozialwissenschaftliche Institut mit Sitz in Hannover.

Der Landesbeauftragte ist der zentrale Ansprechpartner für die jüdischen Verbände in Niedersachsen sowie für die dort lebenden Menschen jüdischen Glaubens. Zu seinen Aufgaben gehört die Unterstützung der Interessen der jüdischen Verbände in Richtung der Landesregierung. Er entwickelt Empfehlungen zum Umgang mit Antisemitismus und erstellt jährlich einen Bericht über Antisemitismus und dessen Bekämpfung in Niedersachsen.

epd Niedersachsen-Bremen

epd-Gespräch: Michael B. Berger