„In Zeiten von rassistischen Stadtbild-Aussagen ist die Vision eines friedlichen Miteinanders wichtiger denn je“
Kirche soll ein safe space, ein sicherer Ort für alle sein – so ihr Selbstanspruch. Wie kann das gelingen und wo hakt es? Diesen Fragen widmet sich das Buch „Gemeinsam anders“, zu dem auch ein Pastor der Landeskirche Hannovers, Quinton Ceasar aus Wiesmoor, ein Kapitel beigesteuert hat.
Herr Ceasar, warum heißt das Buch „Gemeinsam anders“? Wie verstehen Sie den Titel?
Quinton Ceasar: Das Buch setzt ein Zeichen für Vielfalt – dafür, dass alle Menschen, auch die an den Rand Gedrängten, Teil der Gesellschaft und der Kirche sind. Es erzählt von Ökonomien der Ausgrenzung, von Geschlechtergerechtigkeit, Behinderung und Rassismus – und sammelt Zeugnisse der Menschen, die mitten darin stehen. Diese Vielfalt ist kein Störfaktor, sondern eine göttliche Verheißung. Wir teilen Erfahrungen von Verletzung, Sehnsucht und Hoffnung. Daraus erwächst Vertrauen – und der Wunsch, Kirche als Raum der Solidarität zu erneuern. Denn noch immer fühlen sich nicht alle Menschen in der Kirche sicher oder gesehen.
Der Fokus Ihres Beitrags ist nicht schwer zu erraten, wenn man Sie und Ihre Social-Media-Arbeit kennt: die Antirassismus-Arbeit. Wie haben Sie ausgewählt, was Sie in Ihrem Beitrag beschreiben?
Ceasar: In meinem Beitrag greife ich den Satz meiner Kirchentagspredigt beim Abschluss-Gottesdienst in Nürnberg von 2023 wieder auf: „Wir marginalisierte Menschen trauen eurer Liebe nicht.“ Ich wollte dahinter die strukturellen Erfahrungen sichtbar machen, die diesen Satz tragen. Denn die Kirche kann nicht einfach sagen: „Wir haben uns jetzt alle lieb“, solange Menschen systematisch ausgeschlossen werden. Wer sich zu Christus bekennt, steht an der Seite derjenigen, die verwundet sind, deren Stimmen überhört werden. Das Evangelium ruft uns immer dorthin – an die Ränder, wo Leben und Befreiung neu beginnen.
Wie fielen die Reaktionen auf das Buch und Ihren Beitrag aus?
Ceasar: In meinen Netzwerken und meiner Community habe ich viele positive Rückmeldungen erhalten, und das Buch wurde als ein kraftvoller Schrei nach Gerechtigkeit wahrgenommen. Diese Anerkennung freut mich sehr, weil sie bestätigt, dass diese Themen bewegen und wichtig sind. Gleichzeitig lade ich bewusst auch dazu ein, kritisch mit den Texten umzugehen. Es ist völlig in Ordnung – ja, sogar bereichernd –, wenn Menschen Fragen stellen, Dinge nicht nachvollziehen können oder auch kritisch Feedback geben. Solcher Austausch kann Türen öffnen und zu tiefgreifenden Gesprächen führen, die helfen, Vorurteile und Unsicherheiten abzubauen. Nur durch offene und ehrliche Diskussionen können wir gemeinsam wachsen und Kirche verändern.
Mit Blick auf alle Beiträge des Buches – gibt es für Sie besonders berührende Momente?
Ceasar: Mich hat das Zusammenspiel der Stimmen im Buch tief berührt. Es zeigt, dass Vielfalt kein Konzept, sondern gelebte Realität ist. Jeder Beitrag öffnet einen Resonanzraum von Schmerz und Hoffnung. Das Buch legt den Finger in Wunden – und bringt zugleich heilende Salbe. Gemeinschaft entsteht, wo Menschen ihre Verwundungen miteinander teilen und daraus Kraft schöpfen.
Was sollen Lesende im besten Fall mitnehmen aus der Lektüre?
Ceasar: Ich wünsche mir, dass Menschen Mut fassen, Kirche bewusst anders zu denken: nicht als Raum, wo man trotz Unterschiedlichkeit willkommen ist, sondern wegen ihr. Unterschiedlichkeit ist kein Risiko, sondern Ressource. Wenn Kirche überleben will, muss sie das göttliche „Wir“ neu lernen – jenseits von Macht und Norm. Das Buch zeigt praktische Beispiele und stiftet Hoffnung für eine solidarische Gemeinschaft. Darüber hinaus sind rundherum an anderer Stelle inspirierende Projekte wie die „Alle-Kinder-Bibel“ entstanden, die in intersektionaler Verbundenheit gewachsen sind und zeigen, wie gelebte Vielfalt aussehen kann.
Inwiefern kann ein Buch denn etwas ändern? Es ist zu befürchten, dass vermutlich nur jene es kaufen und lesen, die dem Thema ohnehin aufgeschlossen gegenüberstehen.
Ceasar: Das stimmt sicherlich – aber gerade diese Menschen werden zu Multiplikatorinnen und Multiplikatoren. Transformation geschieht nicht von oben, sondern durch kleine Schritte an vielen Orten. Wenn sich Betroffene durch das Buch ermutigt und gestärkt fühlen, beispielsweise eine FLINTA-Gruppe (Frauen, Lesben, intersexuelle, nicht-binäre, trans und agender Personen – also für all jene, die aufgrund ihrer Geschlechtsidentität diskriminiert werden, Anm. d.R.) zu gründen, einen Safer Space für queere Menschen zu schaffen, oder wenn Gemeindevorstände und Gruppen sich bewusst mit Rassismus und anderen Diskriminierungsformen auseinandersetzen – dann bewegt das Buch bereits etwas. Veränderung braucht Geduld, aber sie beginnt dort, wo Menschen bereit sind hinzuschauen.
Gesellschaftlich sieht es gerade wieder mehr nach Ausgrenzung, Diffamierungen, mehr Gegeneinander aus. Ist ein friedliches Miteinander überhaupt ein realistisches Ziel?
Ceasar: Ja, gerade in Zeiten der Spaltung und rassistischen Stadtbild-Aussagen ist die Vision eines friedlichen Miteinanders herausfordernd. Aber Hoffnung ist eben keine naive Illusion, sondern Widerstandspraxis. Ich sehe meinen Einsatz für Gerechtigkeit als Marathon – getragen von Netzwerken des Empowerments, von Menschen, die mich stärken, weil sie dieselbe Sehnsucht teilen. Jeder kleine Schritt zählt. Ich suche den Dialog auf Augenhöhe – nicht mit Ideologien, aber mit Menschen. Jesu Auftrag war eindeutig: den Ausgegrenzten Nähe schenken, den Bedrängten Schutz. Kirche darf sich da nicht neutral verhalten. Haltung ist Nachfolge.