Das gesamte Neue Testament in Kalligrafie

Antje Müller zeigt ihre Wanderausstellung überall dort, wo genug Platz ist

Sie selbst bezeichnet es als Wunder: Antje Müller hat das gesamte Neue Testament abgeschrieben, und zwar handschriftlich und in verschiedenen historischen Schriftarten. 4,5 Jahre hat die Kalligrafin aus Bremen für ihr Mega-Projekt gebraucht.

Es war 2016 und sie hatte gerade einen großen Auftrag für zwei norddeutsche Kirchen beendet, als ihr in den Kopf schoss, was beim ersten Hören unglaublich klingt. „Ich saß da, war erleichtert, dass ich meine Arbeit rechtzeitig geschafft hatte und dachte gleichzeitig: wie schade“, erzählt die 54-Jährige. Wie schade, dass diese Arbeit nun beendet war.
Und dann schoss er ihr in den Kopf, der Gedanke, der so irrwitzig scheint, dass bei den meisten Menschen die erste Reaktion darauf in zwei Wörtern besteht: „Wie bitte?“

„Gottes Wort hat für jeden etwas. Ich habe Trost erlebt, Kraft und Freude, und manchmal einen Rüffel, einen Dämpfer.“
Antje Müller

Was bei vielen reines Erstaunen auslöst, war für Antje Müller nach nur wenigen Minuten ein klares Vorhaben. Im richtigen Leben Mathelehrerin, rechnete sie schnell aus, wie lange es dauert, wenn sie pro Tag fünf Verse abschreibt. „Es passte. Und mir war klar: Ich habe meinen Arbeitsauftrag von Gott in der Tasche.“

Zwar sei sie bei ihrer Berechnung ziemlich blauäugig gewesen, gibt sie heute ganz offen zu. Denn sie hatte nicht mit der Lebenskrise gerechnet, in die sie stolpern sollte während der Arbeit, nicht mit Krankheit und nicht mit Urlaubszeiten.

„Aber ich denke, man muss auch mal blauäugig sein“, sagt sie. „Wie sagt es Christus: Seid wie die Kinder.“ Und wer weiß: Ohne das kurze Ausschalten des Verstandes hätte sie vielleicht gar nicht erst angefangen mit ihrem Mega-Projekt.
Sie hat es geschafft. Die rund 140.000 Wörter des Neuen Testaments brachte sie in unterschiedlichen historischen Schriftarten auf Leporellos und Banner, band sie zu Büchern und legte diese in alte Handschuhschatullen aus der Zeit zwischen 1850 und 1920. Sie malte sie auf Leinwände – und einige Sätze schrieb sie sogar auf die Handschuhe selbst. Das Abschreiben gebe ihr Kraft, sagt Antje Müller. Sie komme dabei zur Ruhe und in die Stille.

Die Ausstellung sehen

Das erste Mal öffentlich gezeigt hat sie ihr kalligrafiertes Neues Testament in der Stadtkirche Wittenberg im Jahr 2021. Noch bis zum 26. August ist die Ausstellung jetzt in der Kirche St. Nicolai in Lüneburg zu sehen. Konzipiert ist ihr Werk als Wanderausstellung, wer es zeigen möchte, kann sich bei ihr melden. „Alles, was es braucht, ist ein großer Raum.“ Sie berechnet kein Honorar, sondern bittet lediglich um die Erstattung ihrer Kosten für die Anreise. Übrigens: Mit dem Neuen Testament hat Antje Müller ihre Arbeit nicht beendet. Sie hat gleich wieder angefangen – anders gesagt: einfach weitergemacht. Mit dem Alten Testament.
Carolin George