„Die Seele ist immer in der Heimat“
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Ein Jahr ist der russischen Angriff auf die Ukraine heute her. Die meisten Geflohenen, die zum blau-gelben Tagestreff in Burgdorf kommen, sehnen sich zurück in die Heimat. Dennoch haben sie in Niedersachsen in einen neuen Alltag gefunden. Ihr Durchhaltewille beeindruckt die Mitarbeitenden der Diakonie.
Putzen zu gehen macht Natalia Vysotska (40) nichts aus. Dabei hat die Ukrainerin vor ihrer Flucht aus dem heute größtenteils zerstörten Tschernihiw zwanzig Jahre als Buchhalterin gearbeitet. „Ich muss etwas tun“, sagt sie in gebrochenem Deutsch. Doch da sich ihr aufgrund der Sprachbarriere kaum etwas anbiete, habe sie den Minijob gerne angenommen. Viel Zeit stecke sie auch in den Integrations- und in den Sprachkurs, erzählt sie. Am Abend helfe sie ihrem 13-jährigen Sohn bei den Schularbeiten.
Vysotska ist eine von hunderten Ukrainerinnen und Ukrainern, die in den vergangenen elf Monaten Hilfsangebote des blaugelben Treffpunkts der Diakonie in den Räumen der evangelischen Paulusgemeinde in Burgdorf genutzt haben. Dazu gehören unter anderem Sprachkurse, Kinderbetreuung, Hilfe bei Behördenkontakten sowie psychologische und seelsorgerliche Unterstützung. Der Großteil der Arbeit wird von rund dreißig Ehrenamtlichen geleistet, darunter Kirchenvorsteher von St. Paulus, aber auch Geflüchtete.
An diesem Vormittag steht die „Kreativwerkstatt“ auf dem Programm. Vysotska gesellt sich wieder zu den anderen Frauen, die an Nähmaschinen Osterbasteleien fertigstellen. Mit am Tisch sitzt die Leiterin des Treffpunkts Imke Fronia vom Migrationsfachdienst der Diakonie Hannover-Land. „Nichts stört so sehr wie Langeweile den ganzen Tag“, sagt die Sozialpädagogin, während neben ihr der Berg an Filz-Osterhasen und Stoff-Tulpen stetig anwächst.
Die Disziplin, der Fleiß und der Durchhaltewille der ukrainischen Treffpunkt-Besucher beeindrucken sie, sagt Fronia. Deutschland habe die Herausforderungen bei der Aufnahme und Integration unterschätzt. „Hier kriegt man wenig Arbeit, wenn man kein Deutsch kann.“ Zudem seien die Bildungssysteme beider Länder nur bedingt kompatibel. So entschieden sich junge Ukrainer, die schon in Deutschland waren, oft für ein Studium in der Heimat, zuweilen auch im englischsprachigen Ausland.
Diese Probleme kennt auch Larisa Levanov (57), die Ende März 2022 mit ihrer heute 17-jährigen Tochter Anastasia nach Burgdorf kam. Der Ehemann sei bei den über 80 Jahre alten Eltern in Charkiw geblieben, spricht Levanov auf Ukrainisch ins Smartphone und lässt das Gesagte von Google übersetzten. Sie sei Ingenieurin und arbeite derzeit als Reinigungskraft bei Edeka. Ihre Tochter gehe zwar in Burgdorf zur Schule, nehme aber nachmittags online am Unterricht in der Heimat teil, um den ukrainischen Schulabschluss zu erwerben. Weil ihr für den Zugang zu deutschen Hochschulen die Sprachkenntnisse fehlten, wolle Anastasia in der Ukraine studieren. „Deshalb werden wir vielleicht im Sommer zurückkehren. Wir sehen keinen anderen Ausweg“, sagt Levanov.
Doch Geflüchtete zieht es auch wegen der Familie zurück nach Hause. „Die Seele ist immer in der Heimat“, weiß Fronia aus ihrer täglichen Arbeit mit Ukrainerinnen und Ukrainern. Viele Frauen pendelten zwischen den Ländern hin und her, um ihre Männer zu sehen. Manchmal besuchten die Männer auch die Familie in Deutschland, sofern der ukrainische Staat ihnen die Ausreise genehmige.
Per Smartphone seien die Menschen ohnehin ständig in Kontakt mit Freunden und Verwandten in der Ukraine, sagt Fronia. Dadurch hätten sie oft unmittelbar Anteil am Kriegsgeschehen. „Bei uns sind schon viele Frauen zusammengebrochen, nachdem sie erfahren haben, was Familienmitgliedern passiert ist. Einige waren monatelang in der Psychiatrie.“
Auch Levanov lässt sich jeden Tag von ihrem Ehemann über die Lage in Charkiw berichten. „Was uns passiert, ist der Horror“, betont sie. Dennoch sei es lebenswichtig, weiterhin an das Gute zu glauben. Zu dem Bösen, das in der Ukraine passiere, sei nur fähig, wer diesen Glauben verliere. Geflüchtete entsprechend zu bestärken, ist die Idee hinter den blaugelben Treffpunkten in der Region Hannover. Dabei waren von Anfang an Menschen gleich welcher Herkunft willkommen, betont Fronia. Entsprechend soll die Einrichtung in Burgdorf zum 1. März auch offiziell in einen internationalen Treffpunkt umgewandelt werden. Der neue Name: „Hope“.
Es sei ein Krieg, der auch den Menschen in Deutschland auf bedrückende Weise ständig nahe sei und die Kirchen in die Verantwortung nehme, sagt der Ratsvorsitzende der Konföderation evangelischer Kirchen in Niedersachsen, Bischof Thomas Adomeit. Ein Gespräch mit dem Oldenburger Bischof über hilfreiche Gebete, Hoffnungsräume und die Kraft von Netzwerken.
Herr Bischof Adomeit, der russische Angriff auf die Ukraine bewegt ein Jahr nach Kriegsbeginn viele Menschen in Deutschland. Nicht wenige haben Angst - auch davor, dass sich dieser Krieg ausweitet. Wie können die Kirchen die Menschen unterstützen?
Adomeit: Der Krieg kommt in Echtzeit in unsere Wohnzimmer, er begleitet unseren Alltag. Wir sind nicht im Krieg, aber wir haben mit ihm zu tun, weil er uns sehr nahekommt. Wir spüren Auswirkungen, was beispielsweise Energiepreise und Energiesicherheit angeht oder auch die geflüchteten Menschen, die Familien, die wir aufgenommen haben. In dieser Situation braucht es Orte, um Sorgen auszusprechen. Um zusammenzukommen in Andachten, in Gesprächsrunden, an Kaffeetafeln. Es geht darum, voneinander und aufeinander zu hören. Die Kirchen bieten diese Räume. Es sind Hoffnungsräume. Es geht um die Hoffnung, dass der Krieg nicht das letzte Wort hat.
Was heißt das konkret?
Adomeit: Zunächst geht es um die Stärkung aller, die sich in den Kirchen und den Gemeindehäusern versammeln. Aber auch um die vom Krieg direkt Betroffenen in der Ukraine. Ich bin Menschen begegnet, für die wir gebetet haben und die mir gesagt haben: Das hilft uns, das macht uns stärker, sicherer, gibt uns Gewissheit. Dann geht es darum, unser Miteinander zu stärken: Wir packen gemeinsam an, um Not zu lindern. Wir sprechen gemeinsam darüber, wie wir damit umgehen, wenn wir merken, dass wir mit dem, was wir tun, an Grenzen stoßen. Und, das ist mir ganz wichtig: Wir müssen immer wieder ganz deutlich sagen: Krieg darf niemals Normalität werden. Das muss uns ins Herz geschrieben sein. Gewalt kann im Endeffekt nie eine Lösung sein. Gewalt darf nie das letzte Wort haben, auch wenn der Einsatz von Gewalt in Ausnahmesituationen nicht zu vermeiden ist.
Stichwort Solidarität: Was nehmen Sie da persönlich wahr?
Adomeit: In der Corona-Situation habe ich mich gefragt, was unsere Gesellschaft noch zusammenhält. Wir sind teilweise so auseinandergegangen in unseren Weltbildern. Und dann kam mit dem Krieg eine unglaublich große Bewegung auf, in der viele Menschen im Blick auf das, was in der Ukraine passiert, miteinander unterwegs waren und es noch immer sind. Das ist für mich ein Hoffnungsstrahl in einer sehr bedrückenden Lage. Das zeigt: Unsere Gesellschaft ist fähig, bereit und willens zur Solidarität.
Sehen Sie mit Blick auf den Jahrestag des Überfalls auf die Ukraine eine besondere Verantwortung der Kirchen?
Adomeit: Ich habe vorhin gesagt, dass Krieg niemals zur Normalität werden darf. Das müssen die Kirchen laut ansprechen. Letztlich wird ein Krieg niemals zu Ende gehen ohne Verhandlungen, auch wenn diese sich aktuell angesichts der Haltung der russischen Aggressoren leider nicht abzeichnen. Es geht trotzdem immer darum, mit zu bedenken, dass es irgendwann an einen Tisch gehen muss. Das heißt auch, dass wir Menschen dabei stärken müssen, Gespräche zu führen, Gesprächskanäle offenzuhalten, so dünn sie im Moment auch sind. Das ist etwas anderes, als in dieser hoch komplexen Situation öffentlich nach scheinbar einfachen Lösungen zu rufen. Als Kirche müssen wir Hoffnungsräume öffnen, das ist unsere besondere Verantwortung.
Was planen die Kirchen mit Blick auf den Jahrestag an diesem Freitag?
Adomeit: Der Tag ist überall in den Kirchengemeinden in Niedersachsen präsent, durch Kontakte in die Ukraine und zu den Geflüchteten hier. Es gibt eine Reihe von Veranstaltungen, die das Netzwerk zwischen den Kirchen und anderen gesellschaftlichen Akteuren deutlich werden lassen. So wird es in den Regionen beispielsweise Andachten gemeinsam mit Hilfsorganisationen, Kommunen, Stadträten und Bürgermeisterinnen und Bürgermeistern geben - neben vielen weiteren Andachten und Gottesdiensten. Das ist eine Kraft, die an vielen Orten im Land wirkt, das ist ein Zusammenhalt, der Hoffnung schenkt.