Startseite Archiv Tagesthema vom 03. Juni 2022

Ins Gespräch kommen und ein Netzwerk aufbauen

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Die Lister Johannes- und Matthäus-Kirche in Hannover hat ein Wohnzimmer eingerichtet, in dem sich ukrainische Geflüchtete, aber auch Menschen aus dem Stadtteil treffen können. Zum Reden, zum Malen, zum Spielen oder zum Pizza essen.

Tatiana sitzt am Tisch vor einer bunt bemalten Leinwand, um sich herum hat sie Farben und Stifte ausgebreitet. Eine junge Mutter setzt sich dazu und gemeinsam malen die beiden Frauen mit großer Sorgfalt kleine Blumenranken auf das fast fertige Werk. „Das Bild soll ein Dankeschön für den Leiter der Leibnizschule werden“, sagt Tatiana. Dem Kollegen des hannoverschen Gymnasiums hat die 51-jährige Kunsttherapeutin aus der Ukraine viel zu verdanken. Denn durch den Kunstunterricht, den sie dort seit einigen Wochen begleitet, kommt sie auf andere Gedanken, verdrängt ihren Schmerz darüber, dass sie einen großen Teil ihrer Familie in der Heimat zurücklassen musste. 
Sie erzählt von ihrem Leben in Charkiw, von ihrer Arbeit als Kunsttherapeutin und dass sie sobald es geht, nach Hause zurück möchte. Zusammen mit dem elfjährigen Sohn hat sie nach ihrer Flucht Unterschlupf bei ihrer in Hannover lebenden Schwester gefunden. An jedem Donnerstag kommt sie ins „ukrainische Wohnzimmer“ der Lister Johannes- und Matthäus-Kirche, um andere geflüchtete Frauen und Kinder zum Malen anzustiften und über das kreative Farbenspiel Erlebtes zu verarbeiten, vielleicht zu verdrängen. Nicht aber zu vergessen.

„Wenn die Menschen hier bei uns gegen die Einsamkeit miteinander ins Gespräch kommen und ein Netzwerk spannen, haben wir viel erreicht“, sagt Barbara Kirsch. Die Architektin ist seit Januar im Ruhestand und engagiert sich für Geflüchtete, die in der Gemeinde Beistand suchen. Dafür hat sie zusammen mit weiteren Ehrenamtlichen in einem Raum des Gemeindehauses ein gemütliches Wohnzimmer eingerichtet. „Die Idee ist uns gekommen, als wir von den blau-gelben Treffpunkten gelesen haben, die der Diakonieverband jetzt an vielen Orten eröffnet“, sagt Pastor Marco Müller.
Das Sofa und die dicken Sitzsäcke stammen aus dem ehemaligen Jugendtreff der Kirche, die übrigen Möbel haben die Initiatoren im Haus zusammengetragen. Seit Anfang Mai steht der Raum täglich geflüchteten Frauen, Männern und Kindern, aber auch Hannoveranern offen, die sich in irgendeiner Weise für die Menschen aus der Ukraine engagieren möchten. „Uns geht es darum, ein Stück weit Lebenshilfe zu leisten“, erklärt der Pastor. 

Den meisten Schutzsuchenden fehlt es an Geld und an Freunden. Statt im Berufsleben zu stehen, sind sie nun abhängig von Unterstützung und fangen mit ihren Kindern noch einmal bei null an. Einige zieht es zurück in die Ukraine, andere sind fest entschlossen zu bleiben.
„Bei uns können sie Kontakte knüpfen, sich austauschen und gegenseitig unterstützen“, sagt Marco Müller. Der Pastor wünscht sich, im „ukrainischen Wohnzimmer“ schon sehr bald Sprachlernkurse anbieten zu können. Einige von ihnen sind in Hannover bereits auf der Suche nach einer Wohnung. „Viele Ukrainerinnen wollen Deutsch lernen, damit sie eines Tages wieder in ihren Berufen arbeiten können, um ihren Kindern eine sichere Zukunft zu bieten.“ Manche wollen sich während ihrer Zeit in der Fremde einfach nur verständigen können. 

Die Maltherapien mit Tatiana tun Müttern und Kindern gleichermaßen gut. „Wir müssen unseren Kindern Sicherheit und Stärke vermitteln, denn vor allem die Kinder sind nach den Ereignissen der vergangenen Monate geradezu traumatisiert“, sagt eine junge Frau, die mit Mann und Tochter hergekommen ist. 
An jedem Dienstag findet in dem Raum ein Cafénachmittag statt. „Das Schönste an diesen Begegnungen ist doch, dass nicht nur ein kultureller Austausch stattfindet, sondern beide Seiten auch etwas Vernünftiges mit ihrer Zeit anfangen“, freut sich Barbara Kirsch. 

Tanja Niestroj / EMA