Startseite Archiv Tagesthema vom 24. März 2022

Gut vernetzte Hilfe für Geflüchtete

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Der Hintergrund des Treffens an diesem Morgen ist bestürzend und traurig, dennoch wirken die fünf Menschen, die vor dem evangelischen Gemeindehaus St. Marcus in Wettmar zusammensitzen, nicht deprimiert oder gar gelähmt. Engagiert diskutieren sie, treffen Absprachen und machen Pläne – es hilft ihnen, anderen helfen zu können, und sicher hilft auch das Erleben eines starken Gemeinschaftsgefühls.
 
Pastorin Reni Kruckemeyer-Zettel, Kirchenvorsteher Jonas Kurtze, Karin Müller, Karolina Meyer und Nina Engelhard sind Teil des Burgwedeler Netzwerkes „Hilfe für Geflüchtete aus der Ukraine“, das sich unmittelbar nach dem Überfall des russischen Militärs auf das Nachbarland zusammenfand. Mehr als 200 Menschen aus allen Ortsteilen Burgwedels, einige auch aus Langenhagen, Isernhagen und der Wedemark, tauschen sich hier regelmäßig per Messenger aus über das, was gebraucht wird und das, was angeboten werden kann – vom Wohnraum über das Kinderfahrrad bis hin zu Bügeln für die Kleiderkammer, den Sprachkurs und die Corona-Impfung. „Unser Ziel ist es, gut strukturierte und vernetzte Hilfsangebote aufzubauen und mit diesen Strukturen auch die Stadt Burgwedel zu entlasten“, erklärt Reni Kruckemeyer-Zettel.
 
Pastorin ist Mittelpunkt des Netzwerkes
 
Wettmars Pastorin hat im Moment Zeit, sich um die Hilfe für Geflüchtete zu kümmern: Noch bis voraussichtlich Ende April hat sie nach einer längeren Krankschreibung Urlaub genommen, den sie nun nutzt, um Stück für Stück wieder in das Arbeitsleben hineinzufinden. Sie ist so etwas wie der Mittelpunkt des Netzwerkes: Bei ihr laufen alle Informationen zusammen, werden sortiert, gebündelt und an die „richtigen“ Menschen weitergegeben. Diese Koordinierungsfunktion ist aktuell besonders wichtig, da sich eine ganze Reihe von Kooperationspartner*innen in der Hilfe für Geflüchtete engagiert: Mit dabei sind die Bürgerstiftung, die Gruppen „Burgwedel hilft!“ und „Burgwedel hilft in der Ukraine“, das Diakonische Werk, die Fahrradwerkstatt, die Initiative „Fuhrberg hilft helfen“, die General-Wöhler-Stiftung, die Lebensberatungsstelle, Burgwedels Ortsbürgermeister*innen, die Stadt Burgwedel, die Tafel und natürlich alle evangelischen und die katholische Kirchengemeinde in Burgwedel.
 
Vier Wochen nach Beginn des Krieges haben sich etwa 100 aus der Ukraine geflohene Menschen bei der Stadt Burgwedel gemeldet. Sie alle sind auf privaten, nicht staatlich organisierten Wegen hierhergekommen und haben private Aufnahme gefunden. „Wir haben hier in Wettmar ein Haus, das wir eigentlich verkaufen wollten“, berichtet Nina Engelhard. Kurzentschlossen warfen sie und ihr Mann diese Pläne über den Haufen und stellten das Haus einer mit drei Kindern aus der Ukraine geflohenen Familie zur Verfügung. „Mittlerweile leben dort auch noch eine Schwägerin mit ihren Zwillingen und die Oma“, erzählt Engelhard. Die Chemie zwischen der Gastgeberin und ihren Gästen stimmt und möglicherweise wird sich daraus auch eine berufliche Perspektive für eine der geflüchteten Erwachsenen ergeben.
 
Anknüpfen an bestehende Strukturen
 
Kinderbuchautorin Karin Müller aus Wettmar organisiert gerade einen Deutschkurs als Bindeglied zu den geplanten Integrationskursen der Volkshochschule, die in einigen Wochen im Gemeindehaus St. Paulus in Großburgwedel beginnen sollen; Karolina Meyer aus Thönse, geboren und aufgewachsen im ukrainischen Odessa, steht als Dolmetscherin zur Verfügung, wann immer es nötig ist. „Ich habe gemerkt, dass mich der direkte Kontakt zu Menschen und ihren Schicksalen noch viel stärker anrührt, als wenn ich davon in der Zeitung lese“, sagt Meyer. Sie plant gemeinsame Zoobesuche und Stadtführungen in Hannover, um den Menschen aus der Ukraine das Ankommen in ihrer neuen Heimat zu erleichtern – auch, wenn es nur eine Heimat auf Zeit bleiben sollte.
 
Gefragt, was es denn brauchte, damit das Netzwerk aus Helfer*innen in Burgwedel so schnell entstehen konnte, verweist Kruckemeyer-Zettel auf Strukturen, die bereits 2015/16 rund um die Burgwedeler Kirchengemeinden aufgebaut wurden: In diesen Jahren gab es in St. Marcus ein Kirchenasyl und es entstanden die Netzwerke „St. Marcus hilft“ sowie „St. Petri und St. Paulus helfen“. „An diese Strukturen konnten wir anknüpfen“, erzählt Wettmars Pastorin; das habe manches leichter gemacht.
 
Nicht aus dem Affekt heraus handeln
 
An frühere Erfahrungen knüpfte auch Kirchenvorsteher Jonas Kurtze an: Im Sommer 2021 war er mit Jugendlichen aus Wettmar ins Hochwassergebiet an der Ahr gefahren, um zu helfen; nun begleitete er drei Reisebusse, die mit Hilfsgütern nach Polen fuhren und mit Geflüchteten nach Deutschland zurückkehrten. Die Fahrt sei richtig und wichtig gewesen, sagt er; dennoch war er nach der Rückkehr nicht zufrieden: Die Aufnahme der Menschen in Deutschland sei chaotisch verlaufen und habe Geflüchtete und Helfer*innen belastet. Ohnehin empfiehlt Kurtze allen Engagierten, nicht aus dem Affekt heraus zu handeln: „Man sollte sich gut überlegen, ob man bislang fremde Menschen in die eigene Wohnung aufnehmen sollte – das kann viele Folgen haben.“
 
In einem sind sich die fünf Helfer*innen, die an diesem Morgen in Wettmar zusammengekommen sind, einig: Die Hilfsbereitschaft ist noch deutlich größer, als sie es in den Jahren 2015/16 war, als zahlreiche Menschen aus arabisch geprägten Ländern nach Europa flohen. Das mag daran liegen, dass uns die angegriffene Ukraine als Teil Europas räumlich und kulturell näher steht; vielleicht auch daran, dass es aktuell schutzbedürftig erscheinende Frauen und Kinder sind, die hierher fliehen, während damals viele jüngere Männer Schutz in Deutschland suchten. Und: „Hier sprechen viel mehr Menschen Russisch oder Ukrainisch als Arabisch“, sagt Karolina Meyer.

Andrea Hesse