„Junge Leute tragen Erlebtes weiter und die Erinnerungskultur voran“

Alica Helms war mit einer Gruppe der Evangelischen Jugend Wesermünde in Auschwitz. Im Interview erzählt die Diakonin, warum Erinnerungskultur eine Daueraufgabe für Schulen sein muss.
Blick aus der Froschperspektive über Gleise, die zu einem großen Gebäude führen - dem KZ Auschwitz.
Eine weiblich gelesene Person in dunkler Kleidung mit blonden Haaren steht auf einem Turm in weiter Landschaft.
Diakonin Alica Helms war mit einer Gruppe der Evangelischen Jugend Wesermünde in Auschwitz.

Frau Helms, Sie sind gemeinsam mit 22 jungen Leuten der Evangelischen Jugend Wesermünde nach Auschwitz gefahren. Unterstützt wurde die Gedenkstättenfahrt von der Landeskirche Hannovers aus dem Fonds „Frieden stiften“. Wie wichtig ist es Ihrer Meinung nach, so nah wie möglich an die Thematik heranzugehen? Und wie haben die Jugendlichen den Besuch des Konzentrationslagers erlebt?

Alica Helms: Die jungen Leute, die mit mir nach Ausschwitz gefahren sind, sind zwischen 15 und 27 Jahre alt. An zwei Tagen haben wir die Gedenkstätte besucht, für den ersten Tag haben wir eine Führung gebucht. Ich erachte es als immens wichtig, sich die Vergangenheit immer wieder vor Augen zu führen – besonders vor dem aktuellen politischen Hintergrund.

Näher als in Auschwitz kann man Geschichte kaum erleben. Etwa wenn man durch ein Krematorium läuft oder in Birkenau in einer Baracke steht, in denen einst 700 Menschen zusammengepfercht wurden. 

Wir haben uns jeden Abend über das Erlebte ausgetauscht und den Tag reflektiert. Und wir waren uns einig, dass einen der persönliche Besuch und das Bewusstwerden der Grausamkeiten am eigenen Leib, anders bewegt. Das ist eine Erfahrung ist, die in seinem Leben jeder Mensch einmal gemacht haben sollte. Der Besuch in Auschwitz/Birkenau ist uns sehr nah gegangen, lässt einen fassungs- und hilflos zurück. Aber die Erfahrung löst auch eine gewisse Angst aus, dass so etwas wieder geschehen könnte, wenn wir nicht vorsichtig und aufmerksam sind.

Was hat die einzelnen Jugendlichen in Auschwitz am meisten erschüttert?

Helms: Man betritt die Gedenkstätte durch einen langen Betontunnel, in dem man über Lautsprecher die Namen der ermordeten Menschen hört. Man läuft da etwa fünf Minuten durch und hört nur einen Bruchteil der Namen. Wir waren im Frühling in Auschwitz. Es war erschreckend, wie friedlich der Ort wirkt. Vögel haben gezwitschert, die Bäume geblüht, die Wiesen waren satt Grün. 

Besonders berührt haben uns die Berichte von Einzelschicksalen. Man kann es sich nicht vorstellen, was während des Zweiten Weltkrieges an Leid geschehen ist und auch vor Ort in Auschwitz zu sein, kann nicht ansatzweise wiedergeben, was an diesem Ort passiert ist. 

Die Ausstellungen im Stammlager Auschwitz bieten einem einen Einblick in die Grausamkeiten. Zu sehen sind Originalfotos, Dokumente und Gegenstände der Opfer. Der Holocaust ist der „bestdokumentierte“ Massenmord der Geschichte, die Nazis haben alles detailliert aufgeschrieben und dokumentiert. Wir haben leere Behälter Zyklon B gesehen, mit dem die Menschen vergast wurden. Wir sind durch Räume gelaufen mit tonnenweisen menschlichen Haaren, Brillen, Prothesen, Koffern, Schuhen und vielem mehr – die persönlichen Gegenstände von Millionen Menschen. 

Der zweite Tag, an dem wir die Gedenkstätte selbstständig besucht haben, war am eindrücklichsten. Man hatte mehr Zeit, sich bestimmte Ausstellungen intensiver anzuschauen. In der Ausstellung für die jüdischen Opfer der Shoa, war ein Buch zu finden, in denen alle sechs Millionen ermordeten Jüdinnen und Juden namentlich aufgeführt worden sind. Dieses Buch ist etwa sechs Meter lang. In einem anderen Raum waren Kinderzeichnungen zu finden, wie zum Beispiel der Rampe in Birkenau.

Eine weiblich gelesene Person in dunkler Kleidung mit blonden Haaren steht auf einem Turm in weiter Landschaft.
Diakonin Alica Helms war mit einer Gruppe der Evangelischen Jugend Wesermünde in Auschwitz.
Hohe Betonwände bilden einen Gang, durch den eine Gruppe Menschen läuft. Darüber ein strahlend blauer Himmel.
Bild: Alica Helms
„Näher als in Auschwitz kann man Geschichte kaum erleben“, sagt Diakonin Alica Helms.

Sollte der Besuch eines Konzentrationslagers nicht für jede Schülerin und jeden Schüler verpflichtend sein? Oder ist die pädagogische Wirksamkeit größer, wenn der Besuch von den Jugendlichen aus gewünscht wird?

Helms: Der Besuch eines Konzentrationslagers sollte für alle Menschen verpflichtend sein. Erinnerungskultur ist Prävention. Es ist ein vor Augen führen und ein Warnsignal. Ich finde aber auch, dass man Schüler und Schülerinnen nicht zwingen sollte. Es ist nicht einfach, eine Gedenkstätte zu besuchen und man muss „kopftechnisch“ in der Lage sein, Gesehenes verarbeiten zu können. Erinnerungskultur im Zwangskontext hat nicht die gleiche Wirkung. Die Museumsseite empfiehlt, Auschwitz erst ab dem 14. Lebensjahr zu besuchen und dem würde ich beipflichten. Dennoch sollte dieser Teil der deutschen Geschichte immer präsent bleiben und erlebbar gemacht werden und Schule bietet hierzu einfach eine gute Möglichkeit. 

Wie steht es um die historisch-politische Bildung der jungen Leute von heute? 

Helms: Ich erlebe die Jugendlichen, die ich kennen lernen durfte, als sehr engagiert. Und das in vielfacher Hinsicht. Ob es Demos zum Thema Klima, Gleichberechtigung oder gegen Rechtsextremismus sind – es besteht der Wunsch, ein gesellschaftliches Zeichen zu setzen und sich deutlich zu positionieren. Die Jugendlichen verstehen, dass der Wahlkampf demokratiefeindlicher Parteien nicht zu unterschätzen ist, finden sich aber oftmals hilflos wieder und das wird auch vielen Erwachsenen so ergehen. 
Auf der anderen Seite schreitet die Zeit voran und die meisten Großeltern haben den Zweiten Weltkrieg nicht mehr erlebt und können nicht berichten. Ich verlasse mich auf die Schulen und den Geschichts- und Politikunterricht, dass dort immer wieder betont und aufgezeigt wird, dass rechtes Gedankengut nichts in der Politik zu suchen hat. 

Was haben die Jugendlichen mitgenommen? Wollen sie Verantwortung übernehmen, um Erinnerungskultur auch in Zukunft wachzuhalten?

Helms: Die Jugendlichen haben viel persönliches Wachstum und Erfahrung mitgenommen. Ich finde die Formulierung „Verantwortung übernehmen“ schwierig. Es liegt in der Verantwortung eines Jeden, Erinnerungskultur wachzuhalten und gegen Rechtsextremismus aufzustehen. Nicht nur bei den Menschen, die sich aktiv mit dieser Thematik auseinandersetzen. Natürlich haben die Jugendlichen, die dabei waren, neue Eindrücke und Argumentationsgrundlagen mitgenommen, um Erlebtes weiterzutragen und Erinnerungskultur aktiv voranzutreiben, allemal im persönlichen Nahbereich. 
Beeindruckt hat mich das Zitat eines Teilnehmers in unserer Reflexionsrunde am Abend: „Auschwitz zeigt, dass es unter den richtigen Umständen möglich ist, dass Menschen anderen Menschen so etwas antun können! Das sollte uns eine Lehre sein.“

Planen Sie selbst in der Evangelischen Jugend noch weitere Aktionen zum Thema Gedenkstättenarbeit?

Helms: Die Fahrt nach Auschwitz soll kein einmaliges Projekt gewesen sein. Ich werde in den nächsten zwei Jahren erstmal in Elternzeit gehen, aber mein Ziel ist, diese Arbeit weiterzuführen. Vielleicht nicht wieder nach Auschwitz, aber um weitere Friedensorte und Gedenkstätten in Deutschland zu besuchen, wie etwa Sandbostel, Bergen-Belsen, Neuengamme oder Sachsenhausen. 

Tanja Niestroj