Journalistin: "Ich vermisse eine aktuelle christliche Soziallehre"

Christiane Florin, Redakteurin beim Deutschlandfunk. Foto: Antje Siemon

Weitere Informationen

Wie politisch darf oder muss die Kirche sein? Dazu hat Dr. Christiane Florin, Autorin und Radioredakteurin für „Religion und Gesellschaft“ beim Deutschlandfunk, eine dezidierte Meinung. Zuvor leitete die Politikwissenschaftlerin, die sich selbst als „Katholikin und Zweiflerin“ bezeichnet, die ZEIT-Beilage Christ & Welt. Bei der Tagung „Macht. Glaube. Politik?“ der Evangelischen Akademie Loccum vom 1. bis 3. September diskutiert sie unter anderem mit dem bayerischen Landesbischof Dr. Heinrich Bedford-Strohm.

Evangelische Kirchentage oder EKD-Synoden werden schon mal als Grünen-Parteitage verhöhnt. Zu Recht?

Christiane Florin: Wer das behauptet, begibt sich in die Knallchargen-Rolle. Dafür mag es Likes geben. Aber für mich zeigt das nur: Der oder diejenige war lange nicht mehr bei einem Kirchentag und lange nicht mehr bei einem Grünen-Parteitag.

Manche Kritiker sagen, die Kirche solle sich auf ihre Kernaufgaben konzentrieren. Welche sind das aus Ihrer Sicht? Und sind die unpolitisch?

Florin: Kernaufgaben und Konzentration, K und K, das klingt per se kernig. Zudem erleichtert es in einem Interview das Überschriftentexten. „XY fordert Konzentration auf kirchliche Kernaufgaben“, diese Zeile gibt vor Kirchentagen und Synoden immer noch eine Agenturmeldung her. Die Kritiker, von denen Sie sprechen, meinen meistens irgendwas mit Seelsorge, Gottesdienst, Bibelstudium, religiöse Bildung, Diakonie und Erlöstaussehen. Aber so genau weiß man nicht, was sie als harten Kern definieren. Klar ist vor allem, was sie nicht darunter verstehen: kirchliche Ansagen zu Tempolimit, Fleischverzicht, Wärmepumpenanschaffung und kirchliches Engagement für ein Rettungsschiff im Mittelmeer. Von mir werden Sie keine Zeile „Christiane Florin fordert Konzentration auf Kernaufgaben“ bekommen. Ich weiß nicht, ob Jesus heute Autofahren würde und wenn ja, was sein Tacho anzeigt. Ich glaube, dass er niemanden ertrinken lassen würde – und misstraue zugleich jedem, der genau sagen kann, was Jesus heute tun würde und was nicht. Unpolitisches Verhalten gibt es nicht. Eine Kirche, die auf Stellungnahmen zu aktuellen politischen Fragen verzichtete, wäre nicht unpolitisch, sondern politische Verschiebemasse.

Zu welchen Themen würden Sie sich deutlichere Worte von der Kirche wünschen – und wo sollte sie besser schweigen?

Florin: Ich vermisse eine christliche Soziallehre, die auf der Höhe der Zeit beziehungsweise der aktuellen sozialen Ungerechtigkeiten ist, die kluge Gedanken formuliert, wie sich ungerechte Verhältnisse verändern lassen. Wahrscheinlich schicken mir jetzt protestantische Professor*innen all die sozialethischen Bücher und Aufsätze, die ich übersehen habe. So ist das meistens, wenn wir Medienmenschen sagen, dass wir in der evangelischen Kirche etwas vermissen. Meistens wird uns zurückgespiegelt, dass es an uns liegen muss und nicht an der Kirche. Das protestantische Selbstbewusstsein verhält sich oft umgekehrt zur politischen Relevanz. Ein zweiter Punkt, den ich nennen möchte: Die Frage „Wie politisch soll die evangelische Kirche sein?“ ist eine Luxusdebatte angesichts der Gefährdung der liberalen Demokratie und des europäischen Gedankens. Demokratie ist nicht nur eine Staats-, sondern eine Lebensform. Es ist wichtig, dass Kirchen die Gefährdungen erkennen, benennen und für demokratische Grundrechte und Grundwerte streiten. Ich wünsche mir nicht mehr Schweigen, sondern mehr Debatte.

Weitere Informationen

Die Fragen stellte Lothar Veit (EMA).