Flüchtlingsrat: Private Aufnahme Geflüchteter gut überlegen

Nachricht Hannover, 24. März 2022

Die Hilfsbereitschaft für ukrainische Geflüchtete ist riesig, doch nicht jede gut gemeinte Tat ist auch hilfreich. Wie können Privatpersonen und Gemeinden am besten helfen? Kai Weber vom Flüchtlingsrat Niedersachsen gibt Antworten.

Herr Weber, die große Solidarität und die vielen Hilfsangebote für ukrainische Geflüchtete müssten Sie freuen - wie blicken Sie auf die derzeitige Lage der ukrainischen Geflüchteten in Deutschland?
Weber: „Die Zivilgesellschaft hat jetzt schon Beispielloses geleistet. Die Menschen haben schnell reagiert, als es der Staat noch nicht konnte, das war großartig. Jetzt sind die Strukturen da – aber es bleiben Probleme: der Mangel an bezahlbarem Wohnraum, dass die Schulen nicht auf weitere 100.000 Kinder vorbereitet sind und dass Integrationskurse praktisch nicht vorhanden sind, weil die Ressourcen nicht ausreichen. Positiv ist, dass die Ankommenden einen großen Gestaltungsspielraum haben, sich zunächst frei bewegen können, sich selbst anmelden und, sobald sie können und wollen, auch arbeiten dürfen. All das hilft, denn eine Traumatisierung tritt oft dann ein, wenn Menschen über längere Zeit einer als ausweglos empfundenen Situation ausgeliefert sind. An diesem Punkt sind viele noch nicht.“

Sollten wir jetzt alle zusammenrücken, vielleicht ein Zimmer in unserer Wohnung freiräumen und Geflüchtete aufnehmen?
Weber: „Die spontane Hilfe ist wirklich beeindruckend. Jedoch sollte man sich so einen Schritt gut überlegen: Für wie lange könnte das funktionieren, und welche Rückzugsräume hätten die Gäste? Menschen, die in U-Bahnschächten saßen und Familienangehörige verloren haben, brauchen die Möglichkeit, auch die Tür mal hinter sich zuzumachen. Eine Einliegerwohnung etwa ist eine gute Möglichkeit, einerseits als Nachbar unterstützen zu können, aber auch den persönlichen Raum zu lassen. Man sollte bedenken: Nicht immer stimmt die Chemie. Und ganz banal geht es auch um die Frage der Nebenkosten, wenn jemand zum Beispiel eine leerstehende Wohnung anbietet. Vom Verein Pro Asyl gibt es eine hilfreiche Checkliste, mit der man die eigenen Möglichkeiten prüfen kann.“

Die meisten Aufnahmeangebote sind sicherlich aufrichtig und ehrenhaft, es gab aber auch Berichte, laut denen gezielt junge Ukrainerinnen mit zwielichtigen Wohnungsangeboten angesprochen wurden. Wie können sie vor Missbrauch geschützt werden? 
Weber: „Wegen solcher Vorkommnisse ist es so wichtig, dass Privatleute oder Wohnungsbörsenbetreibende sich registrieren lassen, das ist ein Faktor für die Sicherheit der Geflüchteten. Insbesondere Frauen müssen Informationen über ihre Rechte erhalten: dass sie bei Problemen auch wieder ausziehen können, dass Pässe niemals abgegeben werden, ebenso wenig wie Telefone. Dass man sich Kopien von allen wichtigen Dokumenten anfertigen und wichtige Nummern auswendig lernen sollte – der Verein Yadwiga hat all das gut zusammengefasst.“ 

Die Hilfsbereitschaft ist groß, vielleicht sogar größer als 2015/16. Können Sie den Vorwurf nachvollziehen, wenn sich andere, nicht aus der Ukraine stammende Geflüchtete, als Geflüchtete zweiter Klasse fühlen?
Weber: „Es gibt zweierlei Standards, ja. Ich denke, dass die Hilfsbereitschaft aktuell auch deshalb so groß ist, weil die Bedrohung jetzt näher ist. Das erklärt auch die Solidarität der Polen und Ungarn als Nachbarn der Ukraine – während nur einige Kilometer weiter an der belarussischen Grenze Syrer und Afghanen zurückgeprügelt werden. Das hat auch mit den Bildern zu tun, die wir von einer Bevölkerung im Kopf haben. Jetzt kommen vor allem Frauen und Kinder hier an, die überdies als uns ähnliche „Europäer“ beschworen werden; Stereotype und Vorurteile wirken negativ, wenn Roma oder afrikanische Studierende Probleme haben, die Grenze zu überwinden.
Wir erleben die Praxis der Hilfsbereiten hier in Deutschland nicht rassistisch, sondern so, dass sie geprägt ist von dem Versuch, allen gerecht werden zu wollen, und dennoch stellen wir Ungleichheiten fest. Wenn ein Wohnheim in Wolfsburg geräumt wird, in dem bisher Asylsuchende wohnten, diese versetzt werden in andere Häuser, damit Ukrainerinnen dort rein können, wirkt das wie eine Rangordnung.
Insgesamt wünschen wir uns, dass alle Schutzsuchenden gleichermaßen Hilfe und – wie die Ukrainer – die Chance auf eigene Gestaltung ihres Lebens hier bekommen. Außerdem dürfen wir nicht vergessen, dass etliche afghanische Ortskräfte, die unter Lebensgefahr für den Westen gearbeitet haben immer noch extrem gefährdet sind und in ihrem Land festsitzen. Die Bundesregierung hatte versprochen, sie zu retten.“

Was erwarten Sie von Gemeinden oder Vereinen, wie können die helfen? 
Weber: „Es geht jetzt um das Willkommen-heißen, und dazu kann jede und jeder Einzelne beitragen: Einfach offen zu sein, nachzufragen und Orientierung zu geben. Das Signalisieren von Solidarität und Empathie und das Gefühl vermitteln, dass man sie unterstützen will, aber auch persönliche Grenzen respektiert. Sie in den Alltag einzubeziehen im nachbarschaftlichen Kontakt, quasi die Stiftung von Alltäglichkeit, das ist jetzt die Aufgabe aller.“

Christine Warnecke/Themenraum