Startseite Archiv Nachricht vom 16. Dezember 2021

Markusgemeinde Sülfeld hilft Ärztin in Not

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Sülfeld. Von einem auf den anderen Tag war alles anders. Der tägliche Routinecheck in der Praxis von May-Britt Goetz brachte einen Wasserschaden ans Licht, die Praxis musste umgehend geschlossen werden. Innerhalb von drei Stunden wurde die Praxis geräumt. „Wir haben alles bei mir zuhause untergestellt, um zu retten, was zu retten war“, erzählt die Orthopädin, die seit dem 2. Dezember mit ihrer Praxis Herberge im Sülfelder Gemeindehaus gefunden hat und nun im Luther- und im Blumenzimmer praktiziert. Dort, wo sonst Chöre proben, Gruppen sich treffen, Konfirmand:innen unterrichtet werden.

„Wir sind als Kirche mit den Menschen auf dem Weg, auch Herberge sein ist Teil unseres Selbstverständnisses als Gemeinde – nicht nur in der Weihnachtszeit“, sagt Larissa Anne Mühring, Pastorin in Sülfeld und Wettmershagen. „Im Sommer kommen zu uns die Pilger:innen und jetzt ein Praxisteam.“ Bis May-Britt Goetz aber überhaupt an der Tür der Pastorin klingelt, vergeht fast eine Woche. Eine Woche, in der nicht nur in Windeseile das Praxisinventar in Sicherheit gebracht wurde, sondern Chefin und Mitarbeitende durch Ehmen, Fallersleben, Mörse und Sülfeld ziehen auf der Suche nach kurzfristig verfügbarem räumlichen Ersatz. „Am Martinstag sind wir losgezogen und haben an jeder Tür geklingelt“, erinnert sich Goetz. Anders als Kinder, die ‚Matten Matten Meeren‘ singen und damit Herzen und Türen öffnen, stehen May-Britt Goetz und ihr Team oft vor verschlossener Tür. Keine Hilfe nirgends. „Man wird vor einer Stahltür mit Videokamera stehengelassen.“

An einem Samstagvormittag klingelt May-Britt Goetz bei Larissa Anne Mühring. Die wundert sich, wer da mit Mundnasenschutz vor ihrer Tür steht, die Person kommt ihr irgendwie bekannt vor. „Ich bin Sülfelderin, ich bin hier geboren und aufgewachsen, ich bin hier getauft und konfirmiert worden“, erklärt Gortz. Das war allerdings vor der Zeit von Pastorin Mühring. „Bei uns stehen ja viele vor der Tür und suchen Raum, aber eine Orthopädiepraxis war bisher nicht dabei“, schmunzelt die Theologin, die gerade in Elternzeit ist. „Ich wusste sofort, das kriegen wir hin. Unsere Räume werden spätestens in der kommenden Woche leer stehen, wenn Corona-bedingt wieder alles abgesagt werden muss.“ Larissa Anne Mühring ist die Einzige, die spontan ihre Türen öffnet und sagt: „Kommen Sie bitte rein, schauen Sie sich die Räume an.“

„Das ist öfter so: Frau Mühring hat eine tolle Idee und wir im Kirchenvorstand sehen dann zu, dass wir das umsetzen“, sagt Eckhard Pieper, Vorsitzender des Sülfelder Kirchenvorstandes. Aber eben mal so umsetzen reicht in diesem Fall nicht. Nachtarbeit ist angesagt, versicherungs- und haftungsrechtliche Fragen müssen geklärt werden. Zum Glück ist Pieper nicht nur Landwirt sondern auch Jurist, auch das Kirchenamt zieht mit. „So was machen Sie nicht im Normalbetrieb. Da haben alle an einem Strang gezogen. Ein gutes Beispiel, wie man gemeinschaftlich mit Tatkraft etwas bewegen kann.“ Auch mit allen Beteiligten und Betroffenen spricht der Kirchenvorstand, alle werden ins Boot gewholt. Chöre und Gruppen unterstützen den Plan und verlagern ihre Proben und Treffen in die Markus-Kirche. „Jeder hat verstanden, dass hier Soforthilfe nötig ist und wir das nur gemeinschaftlich schultern können.“

Am 2. Dezember kann der Praxisbetrieb wieder aufgenommen werden, auch der Einzug ins Gemeindehaus dauert kaum mehr als drei Stunden, nur die EDV braucht etwas mehr Zeit. „Wir sind ‘ne schnelle Umzugsflotte.“ Geholfen haben die Mitarbeiterinnen, Freund:innen und Firma Nolte aus Fallersleben. May-Britt Goetz hat trotz existenzbedrohender Umstände nicht ihren Humor verloren. „Ich war lange Unfallchirurgin. Wenn Sie als Polytrauma bei mir eingeliefert werden, muss ich auch schnell entscheiden und handeln.“ Sagt es und setzt sich an das Klavier, das vor dem improvisierten Empfangstresen steht. Sie kann nicht nur Leben retten, sondern auch Klavier spielen. Der Alltag sei relativ entspannt, denn nicht alle Patient:innen kommen noch. „Gefühlt die Hälfte, der Rest ist abgewandert.“ Das hatte das Gesundheitsamt ihr ohnehin telefonisch beschieden, dass das passieren würde, da ja Wolfsburg mit orthopädischen Praxen sehr gut versorgt sei und bei einer Praxisschließung in Sülfeld davon auszugehen sei, dass der Praxissitz dann einfach gestrichen würde.

„Das war für mich ein ganz wichtiger Punkt“, erinnert sich Pastorin Mühring. „Zehn Frauen wären kurz vor Weihnachten arbeitslos geworden, wenn wir nicht gemeinsam einen Weg gefunden hätten.“ Gemeinde und Dorf bemerken, was hier los ist, denn nach anderthalb Jahren Pandemiestille ist hier richtig Leben. Die Parkplätze, die sonst gern genutzt wurden, wenn Eltern ihre Kinder aus der benachbarten Grundschule abholen, sind durchgängig belegt. „Es ist DAS Thema im Dorf“, freut sich Mühring und schüttelt einem neuen Mitbewohner die Hand. Das Praxisskelett, an dem die Orthopädin ihren Patient:innen Anatomisches erklärt, heißt jetzt Martin. Denn es steht im Lutherzimmer, einem der derzeitigen Behandlungsräume.

Bis zum 22. Dezember abends, dann kommt wieder der Räumtrupp. May-Britt Goetz wird zwischen den Jahren in einem Impfzentrum arbeiten und im kommenden Jahr vorübergehend bei einem Kollegen die Praxisräume mitnutzen können. „Es ist etwas Besonderes, dass die Kirche sagt, wir fühlen uns verantwortlich“, bedankt sich die tatkräftige Orthopädin bei den Sülfeldern. Kirche als Herberge – nicht nur für Maria und Josef und nicht nur zu Weihnachten.

Öffentlichkeitsarbeit im Kirchenkreis Wolfsburg-Wittingen