Startseite Archiv Nachricht vom 05. Oktober 2020

"Entsetzen allein genügt nicht"

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Vor der Synagoge Hohe Weide in Hamburg-Eimsbüttel hat am Sonntagnachmittag ein Mann einen 26-jährigen jüdischen Studenten mit einem Klappspaten niedergeschlagen. Die Hamburger Polizei hat inzwischen bestätigt, dass der Angreifer, ein 29 Jahre alter Deutscher mit kasachischen Wurzeln, bei der Attacke einen Zettel mit einem Hakenkreuz darauf bei sich hatte. Polizei und Generalstaatsanwaltschaft werten den Angriff nach ersten Erkenntnissen als versuchten Mord - mutmaßlich mit antisemitischem Hintergrund. Der Festgenommene machte einen stark verwirrten Eindruck.

Es ist nicht der einzige antisemitische Vorfall in letzter Zeit - seit dem Sommer gibt es eine neue Dokumentations- und Beratungsstelle für antisemitische Vorfälle in Hannover. Sie untersucht auch antisemitische Bilder und Vorurteile auf sogenannten Corona-Demos. Das erste Zwischenergebnis: alle beobachteten Veranstaltungen waren in hohem Maß von Verschwörungserzählungen geprägt. Nur wenige Beiträge waren offen antisemitisch, häufig wurden antisemitische Inhalte durch Chiffren verschleiert.

Ursula Rudnick, Beauftragte für Kirche und Judentum im Haus kirchlicher Dienste, ist über den neuerlichen antisemitischen Angriff erzürnt und stellt im Interview klare Forderungen:

Antisemiten missbrauchen Demonstrationen gegen pandemiebedingte Beschränkungen, ein argloser Student wird vor der Hamburger Synagoge mit einem Spaten zusammengeschlagen und schwer verletzt. Eine Userin auf Twitter fragt sich empört: „Was stimmt mit uns allen nicht?“ Haben Sie darauf eine Antwort?

Rudnick: "Meine erste Reaktion ist Schmerz, die zweite Zorn: warum gelingt es unserer Gesellschaft nicht, jüdische Gemeinden und ihre Mitglieder angemessen zu schützen?
Nach dem Anschlag in Halle vor einem Jahr wurden kurzfristig Mittel zugesagt, um notwendige Sicherheitsmaßnahmen vornehmen zu können. Nach einem Jahr wartet die Liberale Jüdische Gemeinde in Hannover noch immer auf die Mittel. Hier wäre unbürokratisches Handeln notwendig gewesen. Die Klage, dass notwendige Unterstützung in Bezug auf Sicherheit nicht angemessen Gehör finden, ist keineswegs singulär.
Entsetzen nach antisemitischen Anschlägen genügt nicht: es muss zu konsequentem politischen Handeln führen: 1. Hinreichender Schutz von Synagogen 2. Antisemitismus ist konsequent zu ahnden: gesellschaftlich, politisch und strafrechtlich 3. Wir brauchen langfristige Maßnahmen in der Bildungspolitik und nicht nur befristete Projekte.

Jüdische Bürgerinnen und Bürger fühlen sich in ihrer deutschen Heimat von ihrem Nächsten bedroht. Ein unerträglicher Zustand. Was kann einer jeder von uns dagegen tun?
Rudnick: Nicht weghören, sondern hinschauen. Nicht betroffen schweigen, sondern den Mund aufmachen. Solidarität zeige und demonstrieren gehen. So z.B. am 9. Oktober auf der Demo „bunt statt braun“ um 16:00 auf dem Opernplatz in Hannover. Sich interessieren und mitmachen, so z.B. beim Verein Begegnung-Christen und Juden. Niedersachsen e.V.

Was kann die Hannoversche Landeskirche tun?
Rudnick: Der Selbstverpflichtung, jeglicher Form von Judenfeindlichkeit entgegenzutreten, wie sie in der Verfassung der hannoverschen Kirche steht, nicht nur zeichenhaft, sondern konsequent an vielen Orten nachkommen. Dies heißt immer wieder neu und ganz konkret Solidarität mit jüdischen Gemeinden zeigen: so übernahm z.B. der Sprengel Hannover vor einem Jahr die Kosten eines Monats für den Sicherheitsdienst jüdischer Gemeinden in Hannover.
Multiplikator*innen konsequent aus- und fortbilden, so dass sie Judenfeindschaft in jeglicher Form erkennen und angemessen intervenieren. Hierzu ist es notwendig, dass das Thema in der Aus- und Fortbildung vorkommt.

Antisemitische Vorfälle können Sie auf der Seite report-antisemitism.de melden.

Die Synagoge Hohe Weide in Hamburg

Die Synagoge Hohe Weide der Jüdischen Gemeinde Hamburg wurde 1960 eingeweiht. Das Grundstück im Hamburger Stadtteil Eimsbüttel stellte die Stadt zur Verfügung. Der moderne Gebäudekomplex umfasst ein Gemeindezentrum mit Wohnräumen. Bereits seit Anfang der 1990er Jahre steht die Synagoge unter Polizeischutz, seit dem 11. September 2001 wird sie rund um die Uhr bewacht. Ein Teil der Straße Hohe Weide ist für den Autoverkehr gesperrt. Der Gemeinde gehören rund 3.000 Menschen jüdischen Glaubens an. Über dem Eingang des Foyers, das Synagoge und Gemeindesaal verbindet, steht in hebräischer Sprache ein Vers aus dem 122. Psalm: «Friede wohne in deinen Mauern, in deinen Häusern Geborgenheit.»