Startseite Archiv Nachricht vom 10. Februar 2020

Antisemitismus-Experte: Wahl in Thüringen ist Tabubruch

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Hannover. Die Wahl des Ministerpräsidenten in Thüringen mit der Unterstützung der AfD unter einer offen rechtsradikalen Parteiführung ist nach Ansicht des hannoverschen Sozialwissenschaftlers Konstantin Seidler ein Tabubruch. Mit der CDU und FDP hätten zwei staatstragende Parteien gezeigt, dass auf sie unter Umständen kein Verlass sei. "Jüdische Familien müssen ihren Kindern jetzt erklären, wie sicher sie in Zukunft leben werden und wie sehr sie der Zivilgesellschaft, Parteien und Justiz wirklich vertrauen können", sagte der Lehrbeauftragte an der Hochschule Hannover mit dem Schwerpunkt Antisemitismus am Freitag in Hannover. Am vergangenen Mittwoch war in Thüringen der FDP-Politiker Thomas Kemmerich unter Mitwirkung der AfD zum Ministerpräsidenten gewählt worden.

Die Thüringer Wahl sei für die jüdische Gemeinschaft auch in einem weiteren Aspekt wichtig, erläuterte Seidler. Es sei bekannt, dass der linke abgewählte Ministerpräsident Bodo Ramelow zu den führenden Politikern in Deutschland gehöre, die sich stark gegen Antisemitismus und für das jüdische Leben eingesetzt hätten. Ihm gegenüber stehe jetzt "der Königsmacher Höcke, der offen ein Faschist und offen antisemitisch ist".

Jüdische Familien fühlen sich Seidler zufolge in Deutschland zunehmend unsicher: "Die Gefühle kochen in der jüdischen Gemeinde im Moment sehr hoch." In jüngster Zeit hätten sich antisemitische Vorfälle in der Region Hannover vermehrt und die Menschen jüdischen Glaubens immer mehr in Sorge versetzt. Trotzdem werde in der Öffentlichkeit kaum darüber gesprochen, sagte Seidler. Zu Gedenktagen wie der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz bekämen Jüdinnen und Juden zwar viel Solidarität: "Aber dabei geht es um die toten Juden und nicht um die Probleme der Lebenden."

Fast alle jüdischen Familien, die ihren Glauben offen und engagiert lebten, erhielten Todesdrohungen, sagte der Experte. "Es gibt kaum Menschen, die so etwas nicht kennen." Deshalb versteckten die meisten ihren Glauben.  "Wir sind in einer Phase, in der sich jüdisches Leben in Deutschland immer mehr aus dem öffentlichen Raum zurückzieht." Seidler hielt den Hauptvortrag bei der jährlichen Vollversammlung der Initiative "Kirche für Demokratie gegen Rechtsextremismus". Er ist aktives Mitglied der Liberalen Jüdischen Gemeinde in Hannover.

epd-Landesdienst Niedersachsen-Bremen