Startseite Archiv Nachricht vom 17. Juni 2018

Die Zahl der Chöre in Deutschland wächst und wächst

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Hannover/Berlin. Im Jungen Konzertchor "clazz" aus Hannover ist die Stimmung schon prächtig, bevor die Probe überhaupt beginnt. Es wird umarmt, getratscht und gelacht. Die gute Laune setzt sich fort, wenn Chorleiter Martin Jordan (30) mit seinen rund 40 Sängerinnen und Sängern an Stücken wie "Don't you worry child" oder "Wenn ich ein Vöglein wär" arbeitet. Anfang Mai erst war "clazz" beim Chorwettbewerb in Freiburg, in dieser Woche ist der Chor bei den Chortagen Hannover aufgetreten. Jordan ist ein lässiger Typ mit Shorts und Flip Flops. Wer wie er vor 15 Jahren zu den wenigen männlichen Chorsängern der Schule gehörte, galt als "Nerd", denkt er zurück. Das sei heute ganz anders: "Inzwischen ist es cool geworden, im Chor zu singen."

Diesen Trend beobachtet auch Moritz Puschke, Geschäftsführer des Deutschen Chorverbands mit Sitz in Berlin. Seit etwa zehn Jahren gebe es eine "neue Lust am Singen", berichtet der studierte Schulmusiker. Seitdem wüchsen neue Chöre "wie Pilze aus dem Boden", vor allem klassische Ensembles, Kinder- und Jugendchöre sowie Chöre mit dem Schwerpunkt "Vocal Pop".

Allein in Niedersachsen gibt es nach Schätzungen von Wolfgang Schröfel, Ehrenpräsident des Niedersächsischen Chorverbands, mindestens 3.000 Chöre. Zwar nehme in den Verbänden die Zahl der einzelnen Mitglieder ab, die Anzahl der Chöre jedoch steige. Schröfel erklärt das Phänomen folgendermaßen: Während das Modell des eher geselligen statt leistungsorientierten Gesangsvereins auslaufe, entstünden zunehmend Ensembles mit wenig Sängern und hohem Anspruch.

Dazu kommen noch einmal rund 1.500 evangelische Kirchenchöre und Kantoreien, sagt Sigrun Dehnert-Hammer vom Evangelischen Chorverband Niedersachsen. Auch im kirchlichen Umfeld finden sich zunehmend mehr Projektchöre und Chöre auf Zeit zusammen. "Wir beobachten auch, dass sich aus manchen klassischen Kirchenchören, die wegen Überalterung ihre Mitglieder verlieren, ganze neue Formen wie Gospelchöre entwickeln." Insgesamt sei die Begeisterung für das Singen weiter gegeben: "Wir machen eine gute kontinuierliche Arbeit, die besonders dann, wenn sie von hauptamtlichen Kirchenmusikern geleitet wird, auch ein hohes künstlerisches Niveau hat."

Andrea Herrmann (35) singt schon seit 15 Jahren in Chören, mittlerweile ist sie bei "clazz". "Das Chorsingen bedeutet mir total viel", schwärmt die Biologin. Es mache sie glücklich, gemeinsam mit der Gruppe etwas zu erarbeiten - "und das nur mit der Stimme". Auch als Kontaktbörse für Freundschaften eigne sich ein Chor: "Das schweißt zusammen, wenn man gemeinsam Konzerte erlebt."

Das bestätigt Eckart Altenmüller, Direktor des hannoverschen Instituts für Musikphysiologie und Musiker-Medizin. Für ihn ist Chorsingen eine "fantastische Gemeinschaftstätigkeit". "Ich kann mit meiner Stimme einen großen Eindruck erwirken", erläutert er. Ein wichtiges Erlebnis sei dabei die sogenannte Selbstwirksamkeit, das Selbstvertrauen also, etwas schaffen zu können. Das gemeinsame Atmen verbessere zudem die Gehirnfunktion und sorge dafür, dass Hormone wie Oxytocin (für die Bindung) und Endorphin (für das Wohlbefinden) ausgeschüttet würden.

Die meisten neuen Chöre entstehen Moritz Puschke zufolge in Großstädten - insbesondere, wenn es eine Musikhochschule gibt: "Überall dort, wo es gut ausgebildete Chorleiter gibt, verzeichnen wir dieses Wachstum." In Hannover gibt es jede Menge Möglichkeiten für Singfreudige. Laut niedersächsischem Chorverband treffen sich allein in der Stadt rund 200 Chöre. Von 2019 an wird Hannover neuer Gastgeber der "chor.com", dem internationalen Fachkongress der Vokalmusik. Eine gute Wahl, findet Puschke. Hannover sei schon seit langem eine Chorstadt. "So viele gute, leidenschaftliche Musiker auf einem Haufen habe ich selten erlebt."

Auf die Frage, warum Singen überhaupt so lang als verstaubt und uncool galt, verweist der Geschäftsführer auf die deutsche Geschichte. Im Dritten Reich sei das Singen von den Nationalsozialisten ideologisiert und missbraucht worden, sagt er. Auch der Philosoph Theodor W. Adorno habe Singen als Anbiederung an das Volk abgetan. "Nicht gerade eine Antriebsfeder", lacht Puschke. Es habe in Deutschland 60 Jahre der Rückbesinnung gebraucht. "Aber letztlich steckt es im Menschen total drin zu singen."

epd-Landesdienst Niedersachsen-Bremen