Startseite Archiv Nachricht vom 18. März 2015

"Er war der Prototyp" - Ministerpräsident und Landesbischof würdigen 60-jähriges Bestehen des Loccumer Vertrags

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epd-Gespräch: Michael Grau und Ulrike Millhahn

Vor 60 Jahren, am 19. März 1955, unterzeichneten Vertreter des Landes Niedersachsen und der evangelischen Kirchen im Kloster Loccum bei Nienburg den "Loccumer Vertrag". Er regelt die rechtlichen Beziehungen zwischen dem Land und den fünf protestantischen Landeskirchen. Zentrale Inhalte sind der Öffentlichkeitsauftrag der Kirchen sowie Einzelfragen von Kultur, Bildung und Soziales. Über die Bedeutung des Staatskirchenvertrags sprachen Ulrike Millhahn und Michael Grau mit dem niedersächsischen Ministerpräsidenten Stephan Weil (SPD) und dem Ratsvorsitzenden der Konföderation evangelischer Kirchen in Niedersachsen, Landesbischof Ralf Meister aus Hannover.

epd: Der Loccumer Vertrag ist als erster Staatskirchenvertrag in die Geschichte eingegangen. Was macht ihn so besonders?

Landesbischof Ralf Meister: Es war der erste Vertrag, der nach dem Zweiten Weltkrieg das Grundverhältnis von Staat und Kirche neu regelte. Er ist prägnant und kurz und basiert auf einem freundschaftlichen Verhältnis zwischen Staat und Kirche. Indem er den Öffentlichkeitsanspruch der Kirche benennt, formuliert er einerseits die Selbstständigkeit von Staat und Kirche, sieht allerdings auch die evangelische Kirche in einer besonderen Verantwortung für die Werte- und Urteilsbildung im Staat.

Ministerpräsident Stephan Weil: Ich kann da gut anknüpfen. Er war der erste, er war der umfangreichste, er war der Prototyp für viele folgende Staatskirchenverträge. Und was ich in der Retrospektive besonders schön finde: Er war so erfolgreich, dass er inzwischen nur noch geliebt wird.

epd: Ist das so?

Weil: Ja. Ich empfinde die Zusammenarbeit zwischen der Konföderation evangelischer Kirchen in Niedersachsen und dem Land als bestmöglich. Wir sind zwei selbstbewusste Partner, denen es aus guten Gründen wichtig ist, unabhängig zu sein. Gleichzeitig haben wir eine gemeinsame Wertebasis, auf deren Grundlage wir in unzähligen Bereichen sehr entspannt und erfolgreich zusammenarbeiten.

Für uns sind die Kirchen und insbesondere auch die evangelischen Kirchen unverzichtbar als Partner. Das stelle ich zum Beispiel gerade beim Thema Flucht und Asyl fest. Ohne die Anstrengungen der Diakonie oder das Engagement vieler Kirchengemeinden könnten wir mit dieser Aufgabe kaum fertig werden.

epd: Gilt das auch für das Kirchenasyl?

Weil: Das Kirchenasyl ist natürlich etwas, was ein Ministerpräsident von Amts wegen nicht gutheißen kann. Ich habe großen Respekt vor der Bereitschaft, sich für bedrängte Mitmenschen einzusetzen. Das finde ich nicht nur respektabel, sondern auch sympathisch.

Umgekehrt muss ich um Respekt dafür bitten, dass in unserem Rechtsstaat solche Entscheidungen ganz am Ende eben von den staatlichen Behörden unter gerichtlicher Kontrolle getroffen werden. Wir sollten daraus keinen verfassungsrechtlichen Grundsatzstreit machen. Bis jetzt haben wir gute Erfahrungen damit gemacht, in Einzelfällen zu angemessenen Lösungen zu kommen. So sollten wir es auch weiter handhaben.

Meister: Gerade das Kirchenasyl taugt nicht für eine Grundsatzfrage des Verhältnisses von Staat und Kirche, auch wenn wir im Moment, ausgelöst durch Äußerungen des Bundesinnenministers, eine leicht verschärfte Debatte darüber führen. Zum einen ist die Anzahl gering, zum anderen ist das Kirchenasyl immer öffentlich. Es wird stets eng mit den Behörden abgestimmt. Die Kirche ist sich dabei durchaus bewusst, dass sie keine eigene Rechtssystematik aufbauen kann, sondern auf der Akzeptanz der Verfassung ruht. Wir intervenieren nur bei einer sehr drängenden menschlichen Notlage, unter anderem auch, um den Staat an seine Rechtsverpflichtung zu erinnern.

epd: Sie hatten schon den öffentlichen Auftrag der Kirchen angesprochen, der damals festgeschrieben wurde. Was bedeutet das 60 Jahre später für die Kirchen, was bedeutet es für das Land?

Meister: Die Kirche selbst hat einen Öffentlichkeitsauftrag, um ihre gute Botschaft zu verkünden und gegebenenfalls kritische Stimme zu sein. Wenn der Staat diesen Auftrag akzeptiert, duldet und fördert er die praktische Religionsausübung. Das ist historisch gesehen sehr wichtig, denn der Loccumer Vertrag entstand zehn Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Er kommt aus einem System, in dem der Staat versucht hatte, die Kirchen klein zu machen und zu unterdrücken.

An dieser Stelle wird deutlich, dass alle Beteiligten in unserer inzwischen demokratischen Grundordnung ein anderes Modell installieren wollten: eines, in dem die Kirche für Werte- und Urteilsbildungen eine eigene Stimme hat. Es geht darum, dass Staat und Kirche in einer je eigenständigen Gestalt getrennt agieren und gleichzeitig im Interesse des Gemeinwohles vereint handeln.

Weil: Das sehe ich genauso. Ich bin ein großer Anhänger des Subsidiaritätsprinzips. Ich möchte keinen Staat, der den Anspruch hat, alles zu regeln, alles besser zu wissen. Das kann aber nur gelingen, wenn wir starke, selbstbewusste und unabhängige Partner haben. Das Land wünscht sich eine Kirche, die nicht in sich selbst ruht, sondern aktiver Teil der Gesellschaft ist und Verantwortung übernimmt. Wie viele tausende Kinder sind heute in evangelischen Kindertagesstätten und wie viele ältere Menschen sind beispielsweise in diakonischen Alten- und Pflegeheimen? Ich möchte mir nichts anderes vorstellen.

epd: Nun ist die Gesellschaft inzwischen pluralistischer geworden, es gibt Muslime, Angehörige anderer Religionen und sehr viele Menschen, die keiner Kirche angehören. Deshalb sind auch immer wieder Stimmen zu hören, Staat und Kirche stärker zu trennen. Ist das auch ein Modell für Sie?

Weil: Die Trennung von Staat und Kirche ist sicher richtig und seit der Weimarer Republik bei uns ja auch vollzogen. Keiner von uns möchte eine Staatskirche oder einen Kirchenstaat haben. Unsere gemeinsame Wertegrundlage ist für mich das Entscheidende. Und da kann ich keinen Punkt erkennen, an dem die grundlegende Lehre der Bibel in Widerspruch zum Grundgesetz stünde. Eine absolute Trennung hieße ja, wir wollen gar keine Partner sein. Darin sähe ich nur Nachteile.

Meister: Wenn die freiheitlich-demokratische Grundordnung von den christlichen Religionsgemeinschaften anerkannt wird, ist es für den Staat sinnvoll, diese auch in ihrer je eigenen Rolle zu akzeptieren. Der Staat braucht Menschen, die ihre Freiheit überzeugt und verantwortlich leben wollen. Und dazu gehören die Kirchen.

epd: Wie passt der Islam, der ja inzwischen zu Deutschland gehört, in dieses Modell hinein?

Weil: Er passt so weit hinein, wie er sich zu den Werten unserer Verfassung und unserer Gesellschaft bekennt. Es gibt ja sehr unterschiedliche Ausprägungen des Islam – übrigens wie im Christentum auch. Ich freue mich darüber, dass die großen muslimischen Glaubensgemeinschaften in Niedersachsen wirklich keinen Zweifel an ihrer Verbundenheit und ihrer Zustimmung zum Grundgesetz und seinen Werten lassen. Von daher sind sie mir als Partner bei gesellschaftlichen Entwicklungen herzlich willkommen. Und ich nehme dankbar wahr, dass die christlichen Volkskirchen ebenfalls mit den Muslimen zusammenarbeiten wollen.

Meister: Wenn wir Christen aus vollem Herzen und Überzeugung die staatliche Grundordnung akzeptieren, ist es selbstverständlich, dass es Muslimen und anderen Gruppierungen ebenfalls ermöglicht werden muss, bei der Wertebildung aktiv dabei zu sein - selbstverständlich unter der Voraussetzung der Verfassungstreue.

epd: Was bedeutet das jetzt für den Staatsvertrag mit den Muslimen?

Weil: Wir streben eine solche Regelung an, und zwar nicht nur, um Rechtsverhältnisse zu bestimmen. Es geht auch um Respekt, den das Land gegenüber den gläubigen Muslimen in Niedersachsen hat. Bei vielen von ihnen haben sich über die vielen Jahre doch Zweifel gebildet, wie diese Gesellschaft eigentlich zu ihnen steht. Und es tut mir furchtbar leid, feststellen zu müssen, dass ja gerade die letzten Wochen und Monate diese Zweifel weiter genährt haben.

epd: Sollen auch konkrete Regelungen wie ein Kopftuchverbot - oder eine ausdrückliche Kopftuch-Erlaubnis - in diesen Staatsvertrag aufgenommen werden?

Weil: Das kann noch nicht abschließend sagen, weil die Gespräche laufen. Aber ganz generell werden wir uns Gedanken machen, ob es zum Beispiel beim Kopftuch sehr spezielle Fallgruppen gibt, bei denen wir zu einer veränderten Handhabung kommen. Ganz sicher werden wir aber am Neutralitätsgebot der Schulen festhalten. Das habe auch die christlichen Kirchen so akzeptiert.

epd: Gibt es für Sie auch Formen des Islam, die nicht zu Deutschland gehören?

Weil: Aber ja. Dazu zählt jede Form des Islam, die nicht mit unserer Verfassung vereinbar ist, wie beispielsweise der Salafismus oder islamistische Ausprägungen. Solche Ausformungen gehören garantiert nicht zu Deutschland. Auch das Christentum weiß ja aus schmerzlichen historischen Erfahrungen, dass keine Weltreligion vor Fundamentalismus und Extremismus gefeit ist. Deswegen gilt es, diejenigen Kräfte innerhalb des Islam zu unterstützen, die sich klipp und klar zum Grundgesetz und zum gemeinsamen friedlichen Zusammenleben bekennen.

epd: Ein anderes Thema aus dem Loccumer Vertrag ist die Kirchensteuer. Hat sich das Modell überlebt?

Weil: Der Staat hat aus den Gründen, die ich bereits beschrieben habe, ein eigenes Interesse an vitalen und leistungsfähigen Kirchen. Und wenn die Kirchensteuern dies ermöglichen, sehe ich nicht keinen Grund, dies zu ändern. Aber das ist in erster Linie eine Frage an die Kirchen. Wenn sie an diesem Modell festhalten, sollten wir das als Staat auch tun. Sollten die Kirchen sich das eines Tages anders überlegen, müsste der Staat ebenfalls reagieren.

Meister: Die Gefahr besteht nicht. Die Mitgliedschaft, die eben auch durch die Kirchensteuer angezeigt wird, ist zugleich ein Ausdruck der Verbindlichkeit und Verlässlichkeit der Kirche selbst. Insofern gibt es überhaupt kein Interesse, an dieser Stelle etwas zu verändern.

epd: Aber viele treten Menschen heute wegen der Kirchensteuer aus der Kirche aus. Rund 200.000 im vergangenen Jahr - auch wegen der Kapitalertragsteuer.

Meister: Das ist aber keine Anfrage an das Verhältnis von Kirche und Staat. Vielmehr ist es eine Frage, wie weit die Kirche selbst ihren Auftrag in der Gesellschaft so erfüllt, dass Menschen ihrer Gemeinschaft angehören möchten.

epd: Ausdruck der langen Partnerschaft und Freundschaft zwischen Kirche und Staat sind ja auch die sogenannten Staatsleistungen nach Artikel 16 des Loccumer Vertrages. Der Staat zahlt jährlich einen zweistelligen Millionenbetrag an die Kirchen. Ist das ein alter Zopf, der abgeschnitten gehört?

Weil: Diese Regelung gibt es seit dem beginnenden 19. Jahrhundert. Sollte sich der Staat davon lösen wollen, müsste er sehr viel Geld in die Hand nehmen, um die Leistungen, die heute die Kirchen erbringen, erledigen zu können – Geld übrigens, das er nicht hat. Und deswegen halte ich das für eine Phantom-Diskussion, die jedes Jahr wie das Ungeheuer aus dem Loch Ness auftaucht. Was auf dieser Rechtsgrundlage an staatlichem Ersatz geleistet wird, das wird wiederum bei den Kirchen so eingesetzt, dass unsere Gemeinschaft davon profitiert.

Meister: Das zentrale Moment an dieser Regelung ist doch, dass die evangelische Kirche sich auch finanziell für das Gemeinwohl unserer Gesellschaft engagiert: sowohl diakonisch als auch in der Denkmalpflege und ebenso bei vielen anderen Themen.

epd: Werden wir in zehn Jahren das 70-jährige Jubiläum des Loccumer Vertrages feiern?

Weil: Daran habe ich keinen Zweifel. Die Grundlage des Loccumer Vertrages ist so klar, vernünftig und erfolgreich, dass ich niemanden wüsste, der daran ernsthaft rütteln möchte.

Meister: Das glaube ich auch. Ein guter Vertrag zeichnet sich dadurch aus, dass er auch gesellschaftliche Wandlungsprozesse übersteht. Ich bin sicher, dass der Loccumer Vertrag auch 2025 noch eine wunderbare Grundlage für das Miteinander von Kirche und Staat ist - auch für veränderte gesellschaftliche Bedingungen, wie immer die dann sein mögen.

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