Startseite Archiv Tagesthema vom 27. Januar 2023

„Ich bin vorsichtig und schaue genau, wem gegenüber ich mich als Jude oute“

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Der 27. Januar erinnert als Holocaust-Gedenktag an die Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz. Yevgen Bruckmann ist jüdischer Student und erzählt, dass jüdisches Leben in Deutschland auch heute, 78 Jahre danach, noch immer alles andere als sorglos ist. Anschläge auf Synagogen und antisemitische Anfeindungen sind der Grund dafür, dass die Angst der jüdischen Menschen in Deutschland wächst.

Beleidigungen und Anfeindungen, bis hin zu Drohungen oder schlicht "Jude" als Schimpfwort: jüdische Menschen werden immer wieder attackiert. Oftmals sind es rechtsextreme Akteure oder so genannte „Querdenker“, die die Entwicklungen in der Ukraine, das Corona-Thema oder Ankündigungen von Demos im Netz zu ihren Gunsten deuten und versuchen, über soziale Medien Verschwörungen in ihr Weltbild einzupflegen. „Ich weiß, dass ich nicht persönlich gemeint bin, dennoch trifft es mich natürlich, wenn mir etwa aus Kommentarspalten judenfeindliche Parolen ins Gesicht springen“, sagt Yevgen Bruckmann. Vorfälle wie diese erlebt der 26-Jährige nicht täglich, doch dass Juden auch fast acht Jahrzehnte nach dem Holocaust noch eine Art Projektionsfläche für Hass uns Vorurteile bei einem Teil der Gesellschaft bilden, schon. 

Yevgen Bruckmann ist in der Ukraine geboren und mit vier Jahren nach Deutschland gekommen. Mittlerweile hat er die deutsche Staatsangehörigkeit angenommen, schließt im Sommer sein Studium der Sozialwissenschaft ab. „Ich bezeichne mich jedoch nicht als Deutschen, denn es ist nicht entscheidend, welchen Pass man besitzt, wenn man nicht als Deutscher wahrgenommen wird. Deutsch ist, wer deutsch aussieht“, sagt er. Trotzdem ist Deutschland Yevgen Bruckmanns Zuhause. 
Er engagiert sich ehrenamtlich in der Liberalen Jüdischen Gemeinde in Hannover-Stöcken. Nebenbei arbeitet er im Bildungsbereich mit Kindern und Jugendlichen, trifft sich mit Freunden und „musiziert gern ein bisschen rum“. Yevgen Bruckmann möchte ein ganz normaler junger Mann sein. Doch das ist auch 2023 in Deutschland noch immer keine Selbstverständlichkeit. 

Denn auch, wenn jüdische, christliche und muslimische Menschen die Lehre aus Auschwitz darin sehen, jeder Form der Ausgrenzung entgegenzutreten – der Alltag von Jüdinnen und Juden sieht hierzulande anders aus. Im Jahr 2021 hat die Staatsanwaltschaft allein in Niedersachen 250 Verfahren gezählt, in denen judenfeindliche Beleidigungsdelikte verhandelt wurden. 
„Allein aufgrund meines Jüdischseins muss ich mich viel mehr mit Antisemitismus beschäftigen, als mir lieb ist“, sagt Bruckmann. Er weiß, was es bedeutet, der einzige Jude in der Vorlesung, im Freundeskreis, im Alltag zu sein: Sich mit Klischees rumzuschlagen zu müssen. Über antisemitische Sprüche, geschmacklose Witze und Vorurteile hinweghören zu müssen. Aber reicht es, diese Anfeindungen und schrägen Blicke passiv zu verurteilen? „Nein, aber ich bin recht vorsichtig und schaue genau hin, ob ich mich als Jude oute“, sagt der 26-Jährige. Jede Auseinandersetzung zu dem Thema sei ein enormer emotionaler Kraftaufwand. Abhängig von der Tagesform stelle er sich der Diskussion oder überlege, ob sein Gegenüber eine Auseinandersetzung wert ist. Yevgen Bruckmann hat Glück, er kann auf den Rückhalt von Freunden und Familie setzen, betrachtet das ständige Erklären gegenüber Fremden aber gleichzeitig als Kampf gegen Windmühlen. „Man fängt eben immer wieder von vorn an.“

Yevgen Bruckmanns Freundin ist Jüdin. Ob die beiden irgendwann Kinder haben wollen – er weiß es nicht. „Mit Kindern in Deutschland zu leben, stelle ich mir schwierig vor, aber der Rest der Welt bewegt sich ja auch nicht unbedingt in eine positive Richtung.“

Wie alle anderen jüdischen Einrichtungen in Deutschland wird auch die Liberale Jüdische Gemeinde rund um die Uhr bewacht. „Doch die Radikalisierung nimmt für uns eine besorgniserregende Entwicklung – vor allem mit Blick auf die Vorfälle innerhalb der Polizei“, sagt der junge Mann. Wenn sich Polizeibeamte in Kreisen von Verschwörungstheoretikern oder Reihen der AfD bewegen, gleichzeitig aber für die Sicherheit jüdischer Einrichtungen abgestellt werden, müsse man als Gemeinde selbst für den eigenen Schutz sorgen, sagt Bruckmann.

Macht unter diesen Bedingungen der Holocaust-Gedenktag eigentlich Hoffnung? „Nein, hoffnungsvoll sehen wir dem 27. Januar Tag eigentlich nicht entgegen“, sagt Yevgen Bruckmann. Denn der Gedenktag sei vor allem von Kundgebungen bestimmt, ein Anlass für Schulen, den Antisemitismus zu thematisieren und die Politiker treten in die Öffentlichkeit, um den Opfern des Nationalsozialismus zu gedenken. „Im Kampf gegen diskriminierende und menschenverachtende Anfeindungen helfen nur klare Handlungen, jeden Tag“, erklärt der Student. 

Yevgen Bruckmann wünscht sich, dass nicht nur den Opfern des Nationalsozialismus gedacht wird, sondern auch den Soldaten der Roten Armee. Denn 90 Prozent aller Juden hatten ihre Wurzeln in der Sowjetunion und waren an der Befreiung beteiligt. Er selbst begeht den „Gedenktag für Märtyrer und Helden des Holocaust“ für die sechs Millionen ermordeten Juden daher traditionell am Vorabend des 18. April, von Sonnenuntergang bis zum Abend des darauffolgenden Tages. 

Tanja Niestroj

Landesbischof Ralf Meister zum 27. Januar:

„‚Auschwitz bleibt uns anvertraut. Es gehört zu uns wie uns die übrige Geschichte gehört. Mit ihr in Frieden zu leben, ist eine Illusion.‘ Mit diesen Worten erinnert Siegfried Lenz an die Schrecken der deutschen NS-Vergangenheit. Ihre Aufarbeitung war sein großes Anliegen. Am 27. Januar 1945 befreiten Soldaten der Roten Armee die Konzentrationslager von Auschwitz. Seit 1996 ist der 27. Januar der Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus. Mehr als eine Million Männer, Frauen und Kinder wurden in Auschwitz ermordet. Ein unsagbares, unverstehbares Verbrechen an Jüdinnen und Juden, an Sinti und Roma und allen anderen Menschen, die im nationalsozialistischen Weltbild keine Menschen sein sollten.
‚Wenn Verstehen unmöglich ist, dann ist Wissen notwendig, denn was geschehen ist, könnte zurückkehren.‘ So stellt der italienisch-jüdische Schriftsteller Primo Levi fest, der sich unter den Befreiten befand. ‚Es ist passiert, also kann es wieder passieren.‘
Als Christinnen und Christen müssen wir mit tiefer Erschütterung feststellen, dass der christliche Glaube die damaligen Verbrechen nicht verhindern konnte. Mehr noch, Kirchen und ihre Mitglieder haben daran mitgewirkt, Judenhass und Menschenverachtung selbst verbreitet, Nächstenliebe und Mitgefühl außer Kraft gesetzt und damit Schuld auf sich geladen; Schuld an den Menschen und ebenso an Gott wie am eigenen Glauben.
Auschwitz bleibt uns anvertraut. Es gehört zu unserer Geschichte und es ist unsere Pflicht davon zu sprechen und es im Wissensbestand der Weltgesellschaft zu verankern. Mit dieser Geschichte in Frieden zu leben, ist eine Illusion. Als die Nachfahren der Täterinnen und Täter sind wir in der Pflicht, damit Schuldige der vergangenen und gegenwärtiger Verbrechen nicht davonkommen und sich die Schrecken der Geschichte nicht wiederholen.“