Startseite Archiv Tagesthema vom 15. August 2022

Ein Halleluja im Gefängnis

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Die Justizvollzugsanstalt Sehnde bei Hannover zählt zu den größten Haftanstalten Niedersachsens. Über 500 Menschen sitzen hier ein. Die evangelische Pastorin Kirsten Fricke ist seit 2015 als Seelsorgerin für sie da. Zusammen mit drei weiteren Kollegen, darunter ein katholischer Gemeindereferent mit Zusatzstudium zum Supervisor und ein Imam. „Hier im Gefängnis haben wir es schließlich mit vielen Religionen zu tun“, erzählt die 45-Jährige. 
Aber was bewegt eine Frau, Gefängnispastorin zu werden? „Nach dem Vikariat habe ich statt sofort ins Gemeindepfarramt in die offene soziale Arbeit der Diakonie gewechselt, habe daneben Diakoniewissenschaften studiert und bin dann in die Gefängnisseelsorge gegangen“, sagt Kirsten Fricke, die sich schon als junge Frau erst ehrenamtlich in der Kirche, später in Diakonischen Einrichtungen um Menschen, die am Rand der Gesellschaft leben, gekümmert hat.

In der Justizvollzugsanstalt Sehnde bekommt die Pastorin in Gesprächen grauenhafte Geschichten zu hören, schaut auf gebrochene Lebensläufe und ahnt, dass ihr Gegenüber – vielleicht mit Unterbrechungen - oftmals den Rest seines Lebens hinter Gittern verbringen wird. Auffällig sind die Häftlinge aufgrund von Straftaten, aber auch durch schlechtere Bildungsmöglichkeiten und Armut geworden. 

Und wie reagieren die Menschen hinter Gittern auf das seelsorgerische Angebot? Sind sie in ihrer Situation überhaupt offen für Kirche? Oder anders: Was wäre das Gefängnis ohne Kirche? „Mit Bibellesen und Gebeten haben in der Vergangenheit wohl die wenigsten Inhaftierten etwas im Sinn gehabt, können mit Seelsorge unter Haftbedingungen aber durchaus etwas anfangen“, erklärt Kirsten Fricke. Für Bernd B., Ex-Häftling in der Justizvollzugsanstalt Sehnde, war die Seelsorge ein wichtiger Rückzugsraum. Denn das seelsorgliche Gespräch ist für die Menschen im Knast der einzige Ort, an dem sie offen aussprechen können, was sie bewegt. Hier können sie wütend sein, hier dürfen Tränen fließen. Hier können die Männer Macho-Allüren ablegen und sagen, wenn es ihnen schlecht geht. Anders als die Bediensteten in der Justizvollzugsanstalt unterliegt Kirsten Fricke dem Beicht- und Seelsorgegeheimnis. „Man findet in der Haft zwar viele Kumpel, sollte ihnen aber nicht zu viel erzählen, denn damit macht man sich angreifbar, wird schnell zum Opfer“, weiß Bernd B. aus neun Jahren Gefängnisalltag.

Bekehren will die Pastorin die Gefangenen nicht. Sie wartet, bis ihr von Inhaftierten ein schriftlicher Antrag mit der Bitte um ein Gespräch vorliegt. 
Durch die Krise, die die Inhaftierung bedeutet, wird bei vielen Männern im Gefängnis etwas aufgebrochen. „Dann tut es gut, wenn jemand ein offenes Ohr hat, Mut zuspricht und aus Situationen, die noch so traurig sind, ein Stück weit Leben herausholt“, erzählt Kirsten Fricke. „Nicht selten kommt es vor, dass wir nach dem Gespräch zusammen das „Vater unser“ beten oder die Männer Block und Buntstifte annehmen, um ihre Gedanken in der Zelle in eine andere Richtung lenken zu können.“ Mehrmals im Jahr stiftet sie die harten Kerle zum Basteln von Ostergeschenken, Laternen oder Adventskalender an. So bekommen die Familienväter Gelegenheit, etwas zurückzugeben. Etwa dafür, dass Frau und Kinder in der Haftzeit zu ihnen stehen.

Aber kommt man in Situationen voller Emotionen nicht irgendwann an seine Grenzen, als Ansprechpartnerin von Einbrechern, Räubern, Vergewaltigern und Mördern? „Ja, denn ich habe noch nie so viele Männer aus Wut oder Trauer weinen sehen und das berührt mich auch“, sagt Kirsten Fricke. Sie sieht es als großen Vorteil, in der Seelsorge nicht allein, sondern unter Kollegen zu sein. „Manchmal muss man Gesprächspartnern auch ausweichen und dann ist es gut, an männliche Kollegen abgeben zu können“, sagt die Pastorin. Unterschiede zwischen den Menschen wolle sie nicht machen. Davor, dass sich Vorurteile bestätigen, sei sie aber nicht gefeit. Immer jedoch gelte das unausgesprochene Gesetz: Die Seelsorge ist unantastbar. „Das nehmen die Gefangenen durchaus wortwörtlich“, so Kirsten Fricke. 

Aber wie viele Gefangene nehmen das kirchliche Angebot im Knast eigentlich an? Sie kommen zwar freiwillig, aber wissen sie die Arbeit der Seelsorge tatsächlich zu schätzen oder ist das Gespräch und der sonntägliche Gottesdienst einfach nur eine Abwechslung zum langweiligen Gefängnisalltag? Beides, sagt die Pastorin. Die Mitglieder der Chorgruppe, die regelmäßig unter der Leitung der christlichen Seelsorge proben, sind mit viel Leidenschaft bei der Sache. „Durch das Singen, Meditieren und Musik machen habe ich nicht nur zu Gott, sondern auch zu mir gefunden“, sagt Bernd B. Die Seelsorge, so der ehemalige Gefangene, habe ihm das Leben gerettet und Wege aufgezeigt, straffrei zu leben. 

60 bis 70 Gottesdienstbesucher unterschiedlichster Religionszugehörigkeiten zählt Fricke an jedem Sonntag in der „Gefängniskirche“. Und erreicht damit eine Besucherquote, die sich manche Kirchengemeinde in dörflicher Gegend wünschen würde. „Bei uns ist jede Religion, jeder Mensch willkommen.“ Das gilt auch für Bediensteten der JVA. Ihnen bieten die Seelsorgern ebenfalls ihren Beistand an. „Vor allem in Belastungs- und Konfliktsituationen sind wir gefragt“, sagt Kirsten Fricke.

Tanja Niestroj/EMA

"In der Kirche sind alle Menschen gleich"

Interview mit Frank Skibba, Justizvollzugsbeamter in der Justizvollzugsanstalt Sehnde

Herr Skibba, Sie haben in der JVA Sehnde seit 28 Jahren mit Gefangenen zu tun. Was haben Sie im Knast über Menschen gelernt?
Dass man jedem Menschen ohne Vorurteile begegnen und ihn nehmen soll, wie er ist.

Wie kommt denn die Institution Kirche im Gefängnis an?
Das Gefängnis hat ja ein bisschen etwas von einem Kloster auf Zeit: Alle haben die gleichen Klamotten an, die Kontakte nach draußen tendieren gen Null und die Menschen hier haben alle Zeit der Welt. Zeit, um nachzudenken. Für viele Gefangene hat der Glaube bislang keine große Rolle gespielt, hier in der Kirche fühlen sich die meisten aber gut aufgehoben. Selbst dann, wenn sie unsere Sprache nicht sprechen. Es ist schön zu sehen, dass sich die jungen Männer hier bekreuzigen oder zum Stillen Gebet hinsetzen.

Die Gefängnisseelsorge kümmert sich in der JVA ja nicht nur um die Inhaftierten, sondern auch um die Bediensteten. Brauchen Sie denn überhaupt seelische Unterstützung?
Auf jeden Fall. Deshalb sind die Seelsorger mit uns im Gefängnisalltag auch intensiv in Verbindung. Im Gespräch spiegeln wir schwierige Situationen, außerdem gibt es einmal im Jahr regelmäßig so genannte Oasentage. Wir verbringen drei Tage gemeinsam mit der Seelsorge an einem anderen Ort, reden miteinander, tauschen uns aus und abends singen wir zusammen, einer spielt Gitarre. Diese Zeit empfinden die Teilnehmer immer als sehr bereichernd und wohltuend. Grundsätzlich kann man sagen, dass die Seelsorge sehr gut auf uns Bedienstete schaut.
Wir selbst arbeiten der Seelsorge ja auch ein Stück weit zu, denn die Seelsorgenden funktionieren als Puffer zwischen uns und den Gefangenen. Wenn wir im Krisengespräch mit dem Häftling nicht weiterkommen, sind sie manchmal die einzigen, die helfen können. Denn die Seelsorge unterliegt der Schweigepflicht. Das heißt, alles was gesprochen wird, bleibt in dem Raum. Das bedeutet für den Gefangenen eine große Entlastung, für uns aber auch.
Ich bemühe mich im Alltag sehr, die Inhaftierten auf meiner Station im Blick zu haben. So schaue und höre ich bei meinem letzten Rundgang immer sehr genau hin, ob ich die Jungs mit gutem Gefühl in die Nacht entlassen kann oder eventuell noch ein Seelsorger gefragt ist.

Spielt Kirche eine große Rolle in Ihrem Leben?
Ich habe Kirche eigentlich erst in der JVA schätzen gelernt. Vor allem die Gottesdienste lasse ich mir beim Sonntagsdienst nicht entgehen. Ich nehme meine Aufgabe als Aufsicht dort gern wahr, bin aber außerdem ein guter Zuhörer. Denn auch wenn man im privaten Leben Schwierigkeiten oder Probleme hat, gibt eine Predigt in der Gefängniskirche oftmals Antworten auf offene Fragen.
Besonders finde ich, dass zum Gottesdienst die unterschiedlichsten Kulturen zusammenkommen. In der Kirche sind eben alle Menschen gleich.

Neun Männer und ein Halleluja

Wer hier singt, hat einiges auf dem Kerbholz: Der Gefängnischor der JVA Sehnde bei Hannover ist beliebt bei den Gefangenen, denn die Musik gibt den Männern Selbstvertrauen und Mut zurück. Und gut klingt es auch.

"Singen kann glücklich machen"

Viele Menschen, sogar im Gefängnis, berichten davon, dass Singen und Musizieren sich für sie als etwas Befreiendes anfühlt. Professor André Lee hat das auch schon oft gehört. Er ist Facharzt für Neurologie und stellvertretender Direktor des Institut für Musikphysiologie und Musiker-Medizin an der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover. Im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd) erläutert er, was beim Singen passiert.

Herr Professor Lee, macht Singen glücklich?
André Lee: Ja, Singen oder Musizieren im Allgemeinen kann glücklich machen. Wir wissen, dass durch Musizieren Glückshormone ausgeschüttet werden wie Endorphine oder Dopamin, das Belohnung vermittelt. Außerdem werden Stresshormone wie Cortisol abgebaut. Und dann gibt es natürlich die soziale Komponente. Es gibt Studien, die gezeigt haben, dass Kinder, die gemeinsam singen, kooperativer und hilfsbereiter sind. Das ist das Schöne am gemeinsamen Musizieren: Das primäre Ziel ist nicht, gegeneinander zu kämpfen oder als Sieger vom Platz zu gehen, sondern etwas, das jeder allein nicht erreichen kann, zum Beispiel ein Chorkonzert.

Was passiert beim Singen mit uns, dass viele es als befreiend empfinden?
Lee: Das kommt daher, dass die Musik einen befähigen kann, sich vom Alltag abzulenken und sich auf eine Tätigkeit zu konzentrieren, die ein Erlebnis von Selbstwirksamkeit schafft und für die man Wertschätzung bekommt. Auf einmal gibt es etwas, bei dem ich unmittelbar ein Erfolgserlebnis habe, und das ist unglaublich motivierend. Das kann die Perspektive auf die eigenen Fähigkeiten, etwas Neues mit Erfolg zu lernen und dafür Zeit und Kraft zu investieren, entscheidend beeinflussen. Die Ausschüttung von entsprechenden Neurotransmittern, die emotionalen Assoziationen, die durch die Musik kommen, das konstruktive Gemeinschaftserleben und Gefühl der Dazugehörigkeit, all das schafft einen Kontrast zum Alltag.

Manche Menschen sagen: Ich kann überhaupt nicht singen. Was antworten Sie ihnen?
Lee: Ich glaube, dass es wichtig ist, in einer Gruppe zu singen und dort die Erfahrung zu machen, wie viel Freude gemeinsames Musizieren bereiten kann. Die größte Herausforderung ist es, den Perfektionismus und die hohen Selbstansprüche zu reduzieren. Das ist leicht gesagt und kostet Überwindung, aber es ist etwas, was man lernen kann.

epd