Startseite Archiv vom 09. August 2022

Den Führerschein abgeben?

Dass ältere Menschen häufiger an Unfällen beteiligt sind, ist ein Vorurteil. Dennoch können schwindende Sehkraft oder Medikamente das Fahrvermögen beeinflussen. Bei Fahrtrainings können Seniorinnen und Senioren sich ausprobieren - freiwillig.

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Claus Kunath hat auf dem Übungs-Platz in Isernhagen bei Hannover mit orangefarbenen Hütchen eine Strecke aufgebaut. Der Polizist im Ruhestand leitet für die Deutsche Verkehrswacht das Training „Fit im Auto“ für Senioren an. Die Aufgabe lautet: Vollbremsung. Erika Volger weiß, das ist eine größere Herausforderung als gedacht. „Wir werden uns wundern“, sagt die 83-Jährige voraus, während die erste Fahrerin in Startposition fährt. Volger war vor drei Jahren schon einmal beim Training dabei und hat sich gemerkt: „Vollbremsung heißt, das Bodenblech durchtreten.“

Nacheinander beschleunigen die Frauen und Männer ihre Wagen auf 30 Kilometer pro Stunde, um dann abzubremsen. Bei der zweiten Hütchenreihe sollen sie abrupt zum Stehen kommen. Doch Erika Volger ist die einzige, der das auf Anhieb gelingt. Sie beherzigt seit ihrem ersten Kurs bei Kunath, was dieser auch jetzt immer wieder betont: „Das Bremsverhalten hängt im großen Stil vom Sitzverhalten ab.“ Die 83-Jährige hat von vornherein ihren Sitz so weit nach vorne gestellt, dass auch bei der Vollbremsung das Knie leicht gebeugt bleibt. Der Übungsleiter ist stolz über den Lernerfolg: „Ich könnte vor Freude hochspringen!“

Statistisch sind Senioren gemessen an ihrem Bevölkerungsanteil zwar seltener an Unfällen mit Personenschaden beteiligt als jüngere Bevölkerungsgruppen. Insgesamt waren es im Jahr 2020 laut Statistischem Bundesamt 68.853 ältere Menschen und damit 14,6 Prozent aller Unfallbeteiligten. Doch der Pressesprecher der Deutschen Verkehrswacht mit Hauptsitz in Berlin, Heiner Sothmann, schränkt ein: Wenn ältere Menschen in einen Unfall verwickelt seien, hätten sie diesen in zwei von drei Fällen auch verursacht. „Das sind Zahlen, die wir nicht ignorieren dürfen“, sagt er. „Deshalb arbeiten wir viel mit Älteren, zur kritischen Selbstreflexion.“

Auch Kunath betont: „Wir wollen sichere und mobile Leute haben, und das gelingt uns auch.“ Er fügt scherzhaft hinzu: „Wir schulen das Bedienelement vorne links.“ Seit vielen Jahren bietet er die Kurse an, die jetzt nach einer Corona-Pause wieder starten. Allein in Niedersachsen hätten mehr als 10.000 Menschen die Trainings durchlaufen. Vor allem auf dem Land seien noch viele auf das Auto angewiesen, sagt er. Die Region Hannover fördere deshalb die Angebote finanziell.

Im Theorieteil des Trainings erläutert Polizei-Hauptkommissar Karsten Schröder, welche Einschränkungen es mit dem Alter geben kann: schwindendes Sehvermögen, Schwerhörigkeit und abnehmende Beweglichkeit, die den Schulterblick erschwert. „Wer nimmt täglich mindestens zwei Tabletten?“, fragt er in die Runde. Einige Hände gehen hoch. Auch Nebenwirkungen von Tabletten könnten ein Risiko sein, sagt Schröder. Er lobt die Courage der Frauen und Männer, die sich im Verlauf des Tages auch von einer Fahrlehrerin und einem Fahrlehrer über die Schulter schauen lassen - freiwillig.

Anders als in einigen anderen Ländern sind regelmäßige Check-ups für Verkehrsteilnehmer in Deutschland nicht vorgeschrieben. Doch auch Kuna Stobbe, die mit 88 Jahren ebenfalls zum zweiten Mal das Training absolviert, macht Mut. „Ich rate nur jedem, der älter ist, sich selber zu überprüfen. Es passiert ja nichts.“ An diesem Tag überzeugen alle Teilnehmenden bei den Runden durch die Dörfer die Fahrlehrerin Katrin Simokat-Weber und ihren Kollegen. „Es hat aber auch schon Menschen mit Erkrankungen gegeben, denen ich im Vieraugen-Gespräch gesagt habe, sie sollten überdenken, ob sie noch fahren“, sagt Simokat-Weber.

Dass es auch in Familien ein schwieriges Thema sein kann, wenn Kinder sich Sorgen um die Fahrtauglichkeit der Eltern machen, weiß die Altenseelsorgerin Anita Christians-Albrecht. „Da schwingt Trauer mit“, sagt sie. „Bei den Kindern, weil der Mensch, den sie als Mutter oder Vater kannten, stark war und davon etwas verloren geht“, erläutert die evangelische Pastorin. „Ein Stück weit verabschieden sich Menschen von den Eltern. Und die Eltern verabschieden sich ein Stück weit von ihrer Autonomie.“ Falls so ein Gespräch nötig sei, müsse es auf Augenhöhe geführt werden.

Erika Volger ist vor nicht langer Zeit am Steuer eingesprungen, als ihre Tochter auf der Rückreise aus dem Urlaub in Österreich krank geworden war. „Meine Tochter war zufrieden“, resümiert sie. Im Fahrschulwagen fühlt sich die 83-Jährige auf Anhieb wohl. „Ich habe auch einen Opel, der liegt gut in der Hand.“ Dann zählt sie auf, welche Typen sie schon gefahren ist: „einen Simca, einen R6 von Renault mit Krückstockschaltung...“ . Den Führerschein hat sie seit 1967. Sie kann sich vorstellen, noch ein weiteres Mal ein Fahrtraining zu absolvieren. „Ich möchte fit bleiben.“ Die Altwarmbüchenerin hat zwar eine Monatskarte für Bus und Bahn, ganz will sie aber nicht auf das Auto verzichten. „Sonst ist die Beweglichkeit weg. Ich habe sehr viele Kontakte.“

epd / Karen Miether

Abschied vom Führerschein

Was tun, wenn das Fahren tatsächlich nicht mehr geht – zumindest aus Sicht der Angehörigen, der Kinder, der Pflegekräfte? Ein "Abschied" vom Führerschein und damit auch von einem großen Stück Freiheit und Selbstbestimmung sollte würdevoll gestaltet werden.

Die Altenseelsorgerin Anita Christians-Albrecht aus dem Zentrum für Seelsorge und Beratung (ZfSB) gibt im Video-Interview Hinweise, wie Konflikte um die Frage, ob die Eltern den Führerschein abgeben sollten, vermeidbar sind.

Fit im Auto

Fit im Auto wird bereits seit 2015 erfolgreich und flächendeckend von den Niedersächsischen Orts- und Kreisverkehrswachten durchgeführt. Während des Trainings wird allen Senioren ab 65 Jahren gezeigt, wie sie sicher ihre Fahrkompetenz erhalten und stärken können.