Startseite Archiv Tagesthema vom 27. September 2022

„Er konnte endlich sagen, was niemand mehr hören wollte“

Besuchsdienste sind für die Menschen da, die niemanden zum Reden haben

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Der Besuchsdienst der evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers feiert in diesem Jahr sein 70-jähriges Bestehen. Auch während der gesamten Pandemie haben die Ehrenamtlichen ihre wichtige Arbeit fortgeführt.

„Dort hat der Bäcker sein Brot gebacken und hier der Müller das Korn gemahlen.“ Wenn Bernhard (Name geändert) von früher erzählte, sah Marion Herdtler ihr Dorf in einem ganz anderen Licht. Einmal im Monat saß sie bei Bernhard am Tisch und hörte zu. Wenn er die alten Dorfgeschichten herauskramte oder von seiner lange verstorbenen Frau und ihren gemeinsamen Ausflügen schwärmte. „Er konnte endlich sagen, was niemand mehr hören wollte“, sagt Herdtler. Denn die Verwandten hatten den alten Geschichten schon so oft gelauscht – und die Freundinnen und Freunde lebten nicht mehr.

Der Besuch von Herdtler war für Bernhard immer etwas Besonderes. Ihr stellte er ein Glas Wasser und ein paar Kekse hin, daran dachte er sonst im hohen Alter oft nicht mehr. „Immer wenn ich bei Menschen zu Gast war, hatten sie ein Lächeln auf den Lippen“, sagt Herdtler. Seit sechs Jahren besucht sie ehrenamtlich Seniorinnen und Senioren. In der Lukaskirchengemeinde Melle-Bennien in der Nähe von Osnabrück leitet sie den Besuchsdienst, bestehend aus fünf Frauen und einem Mann. „Ich will Menschen helfen, die sich nicht mehr selbst helfen können“, sagt die 61-Jährige.

Ihr Team ist eine von ungefähr 1.000 Besuchsdienst-Gruppen in der Landeskirche Hannover. Längst besuchen sie nicht mehr nur stellvertretend für die Pastorin oder den Pastor die Geburtstagsjubilare aus dem Dorf. Die Ehrenamtlichen trinken mit der einsamen Seniorin einen Kaffee im Altersheim, beglückwünschen den 18-Jährigen zum Geburtstag, begrüßen die neu zugezogene Familie oder verbringen Zeit mit schwer Erkrankten oder Trauernden.

Die Corona-Pandemie hat zuletzt vielen vor Augen geführt, was Einsamkeit bedeutet. Menschen, die sowieso schon alleine wohnen, konnten monatelang ihre wenigen Freundinnen, Freunde oder Verwandten nicht mehr sehen. Einige Gemeinden hat das motiviert, neue Besuchsdienstkreise zu gründen – wie etwa in Salzhausen-Raven in der Nähe von Lüneburg. 

Dort las Melanie Büssem einen Aufruf im Gemeindebrief. Sie entschied sich, mitzumachen. „Als ich vergangenes Jahr meinen 50. Geburtstag feierte, dachte ich mir, dass mein Leben so nicht weitergehen sollte.“ Sie arbeitete viele Jahre als Bankangestellte, später als Steuerberaterin – diesen Job kündigte sie, um sich ehrenamtlich zu engagieren. Sie hatte es satt, auf den Bildschirm zu starren und die Profite anderer zu verwalten. „Ich wollte was mit Menschen machen und etwas zurückgeben.“ Ihr erster Besuch steht demnächst an. Bald fährt sie zu einem älteren Mann in ihrem Dorf. „Ich freue mich und bin wahnsinnig neugierig und gespannt“, sagt sie.

Ihr Team aus fast 20 Frauen fängt erst einmal klein an. Sie wollen alle Menschen besuchen, die ihren 85. Geburtstag feiern. Für den Initiator und Pastor Martin Alex geht es dabei um mehr als nur zu zeigen, dass die Kirche ihre älteren Mitglieder im Blick hat: „Christen kommen untereinander zusammen und tauschen sich aus. Die Besuchsdienste helfen dabei, sich als Gemeinschaft zu verstehen.“

Während die Gruppe um Pastor Alex und Melanie Büssem noch am Anfang steht, hat Marion Herdtler bereits viel Erfahrung gesammelt – nicht nur bei Bernhard. Wer wie sie in die ehrenamtliche Arbeit einsteigen will, sollte Empathie mitbringen. „Man muss offen sein, zuhören, aber auch stillschweigen können. Denn all das, was die Besuchten in ihrer Wohnung erzählen, bleibt auch dort“, sagt sie. Manchmal reicht der bloße Besuch allein nicht mehr aus – vor allem seit der Pandemie.

„Viele Einsame haben verlernt, zu kommunizieren. Manchmal ist es nötig, sie an die Hand zu nehmen und sie zum nächsten Kaffeetrinken des Seniorenkreises zu begleiten“, sagt Helene Eißen-Daub. Sie koordiniert bei der Landeskirche Hannovers die Besuchsdienste. Eißen-Daub schätzt, dass alle Ehrenamtlichen im Jahr zu mehr als 400.000 Besuchen unterwegs sind. „Sie schaffen Beziehungen und Begegnungen – und sind, fernab des Gottesdienstes, eine andere Form, Kirche zu leben.“ 

Viele Besuchskreise sind in ihren Gemeinden längst zu Ideengebern geworden. Sie setzen Projekte vor Ort um – indem sie zum Beispiel dafür sorgen, dass genügend Bänke auf dem Friedhof stehen.

Manchmal aber brauchen auch die Ehrenamtlichen jemanden zum Reden. In Melle-Bennien trifft sich die Gruppe von Marion Herdtler deshalb einmal im Monat, um über die Besuche zu sprechen. Wie gehe ich damit um, wenn mein langjähriger Gesprächspartner plötzlich alles vergisst? Oder wenn ich merke, dass bei einer Seniorin das Leben langsam zu Ende geht? Mit solchen Fragen sind die Ehrenamtlichen konfrontiert. Die Landeskirche bietet deshalb regelmäßig Schulungen an. „Viele Themen kommen von den Ehrenamtlichen selbst, wir sind sehr basisdemokratisch“, sagt Eißen-Daub. 

Auch immer mehr Männer sind bei den Besuchsdiensten dabei. „Es ist die Generation, die gelernt hat, Gefühle zu zeigen“, sagt Eißen-Daub. Und Gefühle und die Kraft, mit ihnen umzugehen, brauche man in diesem Ehrenamt definitiv.

Sascha Priesemann / EMA

70 Jahre Geschichte

Unter dem Motto „Farbe ins Leben bringen“ feiert der Besuchsdienst der evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers in diesem Jahr sein 70-jähriges Bestehen. 1952 stellte der US-amerikanische Reverend Carl Mau auf der Tagung des Lutherischen Weltbundes in Hannover die „Stewardship-Bewegung“ vor, ein Gemeindeentwicklungsprogramm, mit dem Mitglieder von Kirchengemeinden zur aktiven Mitarbeit angeregt werden sollten. Der damalige hannoversche Landesbischof Hanns Lilje griff diese Anregung auf und bildete den „Arbeitskreis für christliche Haushalterschaft“ (1.Petrus 4,10), aus dem der Besuchsdienst entstanden ist. Ehrenamtliche sollten distanzierte Christen wieder an die Gemeinden heranführen und im Sinne des Missionsbefehls (Matthäus 28,18-20) „Jesus an die Türen bringen“ (Herbert Reich). Damit konnten sich aber nur wenige Freiwillige identifizieren. Sie fühlten sich überfordert und so gab es Mitte der sechziger Jahre nur ca. 70 Besuchsdienstgruppen in unserer Kirche. Das änderte sich, als das Ziel der Besuche neu formuliert wurde und die Gruppen als „seelsorgerliche Dienstgruppen“ verstanden wurden. Menschen, die wenig Verbindung zur traditionellen Arbeit der Kirche haben, sollten über ihre persönlichen Probleme einschließlich ihres Verhältnisses zur Kirche und zum Glauben reden können. Es fand eine Akzentverschiebung vom Missionsbefehl zum Gebot der Nächstenliebe statt. Damit konnten sich die Freiwilligen eher identifizieren und die Zahl der Besuchsdienstgruppen stieg bis 1975 auf 265. Man entdeckte, dass der Besuchsdienst auf gesellschaftliche Defizite reagieren kann. Mit einer zunehmenden Anonymisierung der Gesellschaft und der damit verbundenen Isolierung, besonders der älteren Gemeindeglieder, boten Besuchsdienste einen Ausgleich, indem sie menschliche Kontakte ermöglichten.