Startseite Archiv Tagesthema vom 14. Juli 2022

„Die Flutkatastrophe ist immer noch sehr präsent“

Ein Jahr nach den Überschwemmungen im Ahrtal sind andere Themen in den Vordergrund gerückt – doch die Einheimischen leben nach wie vor mit den Folgen

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Innerhalb von 24 Stunden sind in der Nacht vom 14. auf den 15. Juli vergangenen Jahres in Teilen von Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen mehr als 100 Liter Regen pro Quadratmeter gefallen – mit verheerenden Folgen für die Bevölkerung vor Ort. 180 Menschen haben ihr Leben, viele andere ihr Hab und Gut verloren.

Die Flutnacht wird auch Malte Duisberg nicht vergessen. Der Leiter der Stiftung Evangelisches Alten- und Pflegeheim in Kall harrte mit den 34 Bewohnerinnen und Bewohnern der beiden Wohnhäuser sowie seinen Mitarbeitenden bei Kerzenlicht im Obergeschoss der Einrichtung aus. „Zuerst ist eine zwölf Meter lange Fichte an uns vorbeigeschwommen, dann Fahrzeuge und Gastanks – und uns war schlagartig klar, dass gerade Schreckliches passiert“, erzählt der 59-Jährige.

Angefangen hatte am Abend alles mit scheinbar harmlosen Wasserpfützen auf den Terrassen vor dem Pflegewohnhaus. Nur eine Stunde später waren die Erdgeschosswohnungen der Senioren überspült. Das ganze Haus stand von einer Stunde auf die andere in einem See, bis zu 1,60 Meter hoch stieg das Wasser in den Zimmern. „Die zum Teil pflegebedürftigen Bewohner mussten eine Etage höher gebracht werden, dann die Matratzen und alles andere Wichtige“, erzählt Duisberg. Ein echter Kraftakt, denn Strom und Gas waren zu dem Zeitpunkt bereits ausgefallen – und damit auch die Aufzüge. Man improvisierte und richtete sich ein. Für die erste Nacht wurden aus Einzelzimmern Doppelzimmer, die Gemeinschaftsräume der Einrichtung wurden zu Schlafsälen umfunktioniert.

Das, was Malte Duisberg am nächsten Morgen nach Sonnenaufgang erwartete, lässt sich in Worten kaum beschreiben. Rundherum gebrochene Kanäle, Unrat, zerstörte Häuser und Autos, verzweifelte Menschen – und Schlamm, soweit das Auge reichte. „Je weiter der Pegel sank, desto stärker wurde der Gestank nach Öl und Fäkalien“, erinnert sich der Stiftungsleiter. Einige der betroffenen Senioren bekamen für die darauffolgenden Monate bei Freunden oder Familie Asyl, andere brachte Malte Duisberg im zweiten Haus der Stiftung in Gmünd unter.

Aber was hat die Flut mit den betagten Bewohnerinnen und Bewohnern, von denen die meisten schon den Zweiten Weltkrieg überstanden haben, gemacht? „Sie waren erstaunlich optimistisch, haben sich gegenseitig Mut gemacht“, sagt Duisberg.

Kall zählt zu den Orten, die von der Flut am schlimmsten betroffen waren. Auch die Kirchen vor Ort sind „weggeschwommen“, standen bis zu drei Metern hoch unter Wasser. Bis heute ist nicht klar, ob die Gotteshäuser wieder aufgebaut werden. „Plötzlich waren wir mit der Kirche auf Augenhöhe, durch die Katastrophe verbunden und haben uns durch enges Teamwork gegenseitig unterstützt“, sagt Malte Duisberg.

Rund vier Millionen Euro beträgt der Schaden allein für die Stiftung, der nicht komplett über die Elementarversicherung abgedeckt ist. Dank zahlreicher Helferinnen und Helfer und Unterstützerinnen und Unterstützer ist das Erdgeschoss der Pflegeeinrichtung seit Ende April wieder bewohnt, ein Jahr nach der Katastrophe sind auch die ersten vier von 14 Apartments saniert. „Unser Architekt von damals stand nur wenige Tage nach der Katastrophe in der Tür, hat eine Bauleitung und Firmen organisiert, um zu helfen – ein Gottesgeschenk in unserer Situation“, sagt Malte Duisberg. Aber auch viele Menschen, die er selbst nicht kannte, haben mit angepackt. Haben das komplette Mobiliar aus der unteren Etage auf den Marktplatz geschafft, das von dort aus mit Baggern entsorgt wurde. Die Diakonie Katastrophenhilfe Rheinland-Westfalen-Lippe hat finanzielle Soforthilfe geleistet und für betroffene Hausbesitzer Bautrockner bereitgestellt.

Es wurden Flutseelsorgerinnen und -seelsorger nach Kall und in die benachbarten Gemeinden geschickt. „Nicht nur die Bewohner, auch unsere Mitarbeiter fühlten sich von der Flut überrollt und brauchten seelsorgerischen Beistand“, berichtet Duisberg.

Am zweiten Tag nach der Flut ist auch Sabine Elsemann im Ahrtal angekommen. Die Psychologin und ehrenamtliche Notfallseelsorgerin gehört zum Fluthilfeteam und ist damit Teil des Einsatzes der Diakonie Katastrophenhilfe. Sie ist sowohl für Betroffene als auch für Einsatzkräfte da. Koordiniert wird die Arbeit in Kooperation mit der Evangelischen Landeskirche. „Ich habe in meiner beruflichen Laufbahn viel erlebt, aber vor Ort angekommen, haben Kopf und Verstand nicht zusammengebracht, was da über Nacht passiert ist“, erzählt die 64-Jährige. Seit einem Jahr ist sie „im Tal“, und wird noch ein weiteres Jahr bleiben. Weil die Menschen weiterhin Unterstützung brauchen. Aber kann man denen, die alles verloren haben, überhaupt Mut zusprechen und Hoffnung machen? „Nein“, sagt Sabine Elsemann. „Noch heute ist den Betroffenen am meisten geholfen, wenn wir mit anpacken, denn die Hilfewelle ist schon sehr bald nach der Katastrophe abgeebbt.“ Statt ins Ahrtal werde in die Ukraine geschaut. Dorthin, wo unbürokratisch auch finanzielle Hilfe fließe.

Die Infrastruktur, so die Psychologin, sei über Kilometer zerstört, der Dreck immer noch präsent und die meisten Ahrtalbewohner ohne Zukunftsperspektive. „Kaum Handwerker, viel Bürokratie, kein Geld – das beschreibt die derzeitige Situation, der die Menschen gerade ausgeliefert sind“, sagt Sabine Elsemann und räumt ein, dass die Suizidrate in dem Katastrophengebiet im vergangenen Jahr rasant angestiegen sei.

Die Pfarrerin Claudia Rössling-Marenbach wurde an besagtem Abend von Helmut Lussi, Bürgermeister in Schuld, angerufen. „Die Feuerwehrleute hatte in den Fluten eine Kameradin verloren und brauchten mich als Notfallseelsorgerin“, sagt die 55-Jährige. Bis halb drei in der Nacht sei sie schließlich in dem Örtchen, das mit der Flut und durch das Fernsehen über die Grenzen Deutschlands hinaus bekannt wurde, geblieben. „Wir standen an der Ahrbrücke, konnten den Menschen, die von der gegenüberliegenden Uferseite mit Taschenlampen nach Hilfe gewunken haben, aber nicht erreichen“, erzählt die Pfarrerin betroffen.

Auch heute herrsche in den zehn Gemeinden, die zu der Evangelischen Kirche Adenau gehören, noch große Verzweiflung. Während einige Hausbesitzer schon Geld von der Versicherung erhalten haben und vielleicht auch Handwerker finden konnten, sitzen andere noch im Rohbau. „Viele Familien, die zum Teil schon in ihre Häuser zurückgekehrt waren, haben jetzt erfahren, dass ihr Eigenheim nun doch abgerissen werden muss“, skizziert sie die derzeitige Gemengelage im Ahrtal.

Malte Duisberg wird heute Abend in Gedenken an die Nacht vor einem Jahr kleine Gebetshefte verteilen, in die sich seine Bewohnerinnen und Bewohner, wenn sie mögen, mit ihren Gedanken flüchten können. „Weil die Flutkatastrophe nach wie vor ein sehr präsentes Thema in der Einrichtung ist“, so Duisberg.

Tanja Niestroj / EMA

Weitere Informationen

Wer den Menschen vor Ort mit Spenden helfen möchte, hat dazu über das Spendenkonto der Evangelische Kirche im Rheinland, der Evangelischen Kirche von Westfalen und dem Diakonischen Werk Rheinland-Westfalen-Lippe die Möglichkeit.

Zum Jahrestag der Flutkatastrophe wird am Freitag, 15. Juli 2022, 16 Uhr, in Ahrbrück an der Auferstehungskapelle ein ökumenischer Gottesdienst gefeiert (mit Bischof Dr. Stefan Ackermann, Präses Dr. Thorsten Latzel, Pfarrerin Claudia Rössling-Marenbach und Gemeindereferentin Manuela Kremer-Breuer). Der Gottedienst wird auch online über Zoom übertragen. Hier geht es zum Einladungslink.