Startseite Archiv Bericht vom 27. Juni 2022

Lernräume: "Für Kinder, die sonst durchs Raster fallen"

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Denis und sein Klassenkamerad Haroun sitzen im Gemeindehaus der St.Petri-Gemeinde in Hannover-Döhren beim gemeinsamen Frühstück. Weintrauben, belegte Brote und Saft stopfen die Jungs begeistert in sich hinein; sie können es kaum abwarten, dass der Tag endlich losgeht: Bingo mit Verben, Lesen mit Anleitung, Fußball auf dem Kirchhof und ja - auch Rechnen: "Mathe kann ich eigentlich gut“, sagt Denis. „Aber in Deutsch will ich noch besser werden. Wir sprechen zu Hause Rumänisch, deshalb kann ich das in meiner Familie nicht so gut üben."

Es ist ein sogenannter Lernraum, in dem Denis und Haroun gemeinsam Zeit verbringen. Eine Initiative der Kirchen in Niedersachsen, die vom Land unterstützt wird. Die Idee, Kinder und Jugendliche trotz vieler Hindernisse ganz gezielt zu fördern, entstand während der Corona-Schulschließungen im Jahr 2020 und hat seitdem eine große Dynamik entwickelt. In diesem Sommer fördert die Landesregierung "Lernraum"-Projekte, darunter auch Feriencamps und Freizeiten, mit rund acht Millionen Euro, mehr als doppelt so viel wie im vergangenen Jahr. Von Uetze nach Adelebsen, von Haren im Emsland bis Hannover-Döhren haben seit 2020 35.000 Schülerinnen und Schüler davon profitiert.

In diesen großen Zahlen stecken viele kleine Geschichten. Silke Wieker liebt solche Geschichten. Die Diakonin geht gern neue Wege - vor allem, wenn sie zu Menschen führen. Und sie erkennt darin auch eine Aufgabe für die Kirche als Ganzes: "Wir sollten, wann immer möglich, vor Ort in Erscheinung treten. Unser Auftrag ist ja nicht nur die Verkündigung des Wortes, sondern auch das Tun." Dorthin zu gehen, wo arme und schwache Menschen sind - das möchte die Frau, die mit einem Team aus Ehrenamtlichen Ende Juli schon zum 7. Mal einen "Lernraum" anbietet. "Wir machen das für Kinder, die sonst überall durchs Raster fallen", sagt Wieker.

Und so lesen sich auch in diesem Sommer wieder Kinder im Lernraum der Kirchengemeinde St. Petri gegenseitig laut vor. Sie werden Ausflüge machen, sich beim Theaterspielen ausprobieren und Freundschaft schließen. Manche von ihnen sprechen zu Hause tamilisch, andere womöglich ukrainisch - umso wichtiger ist dem Team aus Ehrenamtlichen der Schwerpunkt auf dem Lesen. Aber auch Spiel und Spaß, dazu ein Snack zu Beginn des Vormittags und ein gemeinsames Mittagessen stehen auf dem Programm. Wenn es solche Angebote nicht gäbe, müsste man sie erfinden, sagt Diakonin Wieker: "Wir erhöhen ganz erkennbar Bildungschancen, führen Nationalitäten zusammen und geben Kindern nicht zuletzt auch einen Ort, an dem sie Ruhe finden."

Auch Antje Stoffregen macht gern die Türen weit auf. Die Diakonin aus Lüneburg leitet mit zwei Kolleginnen die Kindertafel Lüneburg, ein gemeinwesenorientiertes, diakonisch-pädagogisches Angebot der Paul-Gerhardt-Kirchengemeinde. "Unsere Angebote machen Ehrenamtliche möglich", sagt Stoffregen. "Wir bieten nicht nur die Kindertafel sondern auch den Lernraum, ein Mobil-Café, eine Essenszeit für alle, ein Sprechcafé und vieles mehr an." Über den Lernraum für Kinder und Jugendliche hinaus ist das Paul-Gerhardt-Haus so zu einem Angebot geworden, das ein gedeihliches Miteinander und Füreinander fördert.

Undenkbar, dass eine solch umfassende Förderung wegfiele, sagt Antje Stoffregen: "Ohne diese Möglichkeiten der Unterstützung und Begegnung wären Kinder und Jugendliche, aber auch viele Erwachsene auf sich allein gestellt." Dank des großen Engagements von knapp 100 Lüneburger Ehrenamtlichen allein bei der Kindertafel können pro Wochentag 20 Kinder kommen, acht weitere im Wechsel. Es helfen Menschen von 16 bis 75 Jahren - manche studieren, andere sind im Ruhestand. Was sie vereint: die Begeisterung für Menschen. 

Denn es geht, so beschreibt es Diakonin Stoffregen, nicht allein um Bildung: "Durch das Miteinander von Menschen aus ganz verschiedenen Generationen, Kulturen und Lebenslagen entstehen Beziehungen." Nach der gemeinsamen Arbeit an Hausarbeiten und der individuellen Förderung in Lesen und Mathe endet der Lüneburger Lernraum genau wie derjenige in Hannover-Döhren mit Freizeit und Toben. Und auch das Credo der Döhrener Diakonin passt zweifellos für beide Orte. "Genau für solche Angebote sollte Kirche sich stark machen", sagt Silke Wieker. "Wenn ich nur gute Worte rede, aber in der Praxis hapert es, dann merken das die Leute sofort."

Alexander Nortrup / EMA

Lernräume - eine kirchliche Initiative für alle

Die Lernräume sind ein während der Corona-Pandemie im Jahr 2020 entstandenes Programm. Ziel ist es, Kindern und Jugendlichen einen Ausgleich für die durch die Corona-Pandemie ausgelösten Einschränkungen in ihrem persönlichen Leben und im Bildungsbereich zu bieten. Zur Teilnahme berechtigt sind alle Schülerinnen und Schüler der Jahrgänge 1 bis 10 - und selbstverständlich auch alle aus der Ukraine nach Niedersachsen geflüchteten Schülerinnen und Schüler. 

Die Lernräume waren ursprünglich eine Initiative der Konföderation evangelischer Kirchen und des Diakonischen Werkes in Niedersachsen gemeinsam mit den katholischen Bistümern und der Caritas in Niedersachsen. "Eine exzellente Idee, die seit Beginn der Pandemie immer wieder sehr vielen Kindern und Jugendlichen zu Gute gekommen ist und für die ich mich ausdrücklich noch einmal bedanke", so Kultusminister Grant Hendrik Tonne.

Seit 2020 wurden rund 2000 Lernräume für etwa 35.000 Schülerinnen und Schüler durchgeführt. Schon jetzt steht fest, dass auch in den Herbstferien 2022 Lernräume in Niedersachsen öffnen werden.