Startseite Archiv Tagesthema vom 15. Februar 2022

Heinz Kattner - ein Geburtstagsbesuch mit Keks

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Gebuchter Dozent, verehrte Lehrkraft, PEN-Mitglied, Worpswede-Bewohner, Träger des Verdienstordens - nützt jetzt alles nix: "Hier ist der Ast einfach senkrecht runtergekracht und hat ein Loch in die Folie gerissen." Heinz Kattner zieht im Mantel die Schultern hoch und ist tief betrübt. So tief wie der Wasserstand der Laub-morastigen Senke vor seinen Füßen, die mitten in Kattners Heiligtum eigentlich ein Teich sein will und damit die Krönung eines durchaus betonten Bedürfnisses. "Ich mag es, wenn um mich herum Wasser plätschert."

Wir stehen gefühlt am Ende der Welt. Leestahl nennt sich der Flecken – hier begnügen sich die Häuser mit Nummern, Straßen verzichten zuweilen auf Asphalt und gänzlich auf Namen. Der Blick reicht über Hügel, Wiesen und Waldrand, unterbrochen von Hofstellen und Weidezäunen.

Wer lebt hier? Freiwillig? 180 Kilometer sind es bis zum Predigerseminar im Kloster Loccum, 140 Kilometer zum Atelier Sprache im Theologischen Zentrum Braunschweig, 200 Kilometer bis zur Geburts- und Früh-Wirkungsstätte Hildesheim – Heinz Kattner zeigt ein feines Lächeln. Spontanes Unverständnis kann er gut verstehen. Und doch wirbt er für die Entscheidung junger Jahre. "In den 1970-er Jahren suchte ich mit Freunden nach einem Ort auf dem Land und doch nah an einer Stadt mit Kultur ..." Seither leben sie dort, im Dunstkreis Lüneburgs, haben sich ein verlassenes Wohnhaus samt Schweinestall zum Mehrfamilien- und Gästehaus ausgebaut, hegten Träume, schmiedeten kühne Pläne – und wägen anstelle der gefahrenen Kilometer inzwischen doch zuweilen die Abgeschiedenheit gegen das Alter und seine Tücken ab. Doch dann seufzt Kattner mit versonnenem Blick. "Die Bäume da, die habe ich alle selbst gepflanzt." Wer wollte sich davon schon trennen.

Heinz Kattner hat im Januar seinen 75. Geburtstag gefeiert. 45 Jahre war der gelernte Versicherungskaufmann, später studierte Theologe und noch später geschulte Gesprächstherapeut Dozent für – ja, was eigentlich? "Ich weiß das gar nicht", gibt er zu – inzwischen im Sessel in seiner Wohnung im Obergeschoss. Bei Tee und Keks sinniert er über das, was hinter ihm liegt und was bei Befragungen seiner einstigen Schützlinge ein steter Quell auch emotionaler Erinnerungen ist. Fest steht, es ging um Sprache. Um die Frage, wie aus einer Bibelstelle eine Predigt wird. Und was dies mit dem Menschen zu tun haben könnte, der auf der Kanzel steht, und jenen, die ihm lauschen.

Jene, die ihn kennen, wird deshalb kaum überraschen, dass auch diese Begegnung kaum ein Frage-Antwort-Interview werden kann. Das Gespräch, das gegenseitige Aufspüren von Authentizität, von dem, was eine Person im Kern zusammenhält, ist noch immer Kattners Welt.

Doch Heinz Kattner ist nicht nur Theologinnen und Theologen aus Seminaren in eindrücklicher Erinnerung. Seitdem der aus einfachem, bürgerlichem Elternhaus Herausgewachsene Lehre und Versicherungsbranche hinter sich zu lassen wagte und seinen Bildungs- wie Bücherhunger entdeckte, gehören Kattners Sinne dem Wort - gesprochen, vor allem aber geschrieben auf Papier. Gedichtbände hat er selbst verfasst, noch mehr davon herausgegeben. Er kümmert sich mehrfach Preis-belohnt um jene, die schreiben, und jene, die darüber sprechen.

In Kattners weitläufigem Garten symbolisieren alte, geschichtsträchtige Tore den Zugang zu diesem Reich. Dahinter – und am noch wiederzubelebenden Teich vorbei – duckt sich eine kleine Holzhütte zwischen hoch gewachsenen (und, ja, selbst gepflanzten) Rhododendren. Die Schreibstube – in Hörweite des eigens verlegten Wasserlaufs – hat in diesen Wintertagen allerdings nur einen Gast. Anstelle des Dichters wacht ein lesender Gartenzwerg auf der Holzveranda.

Zwischen den Rollen weiß Kattner zwar klar zu unterscheiden. Und doch eint den Lyriker und den Dozenten ein Anspruch: Ein Text kann nur dann wirken, nur dann ein Gegenüber erreichen und berühren, wenn er etwas mit dem Menschen zu tun hat, aus dessen Feder die Zeilen stammen.

"Wer Persönliches erzählen möchte, soll dies unbedingt tun. Aber nur dann, wenn es nicht instrumentalisiert wird, wenn daraus kein Anspruch erwächst, auch alle anderen sollten derart verfahren." Persönliches dürfe verstören und auch Widerspruch ernten, auch von der Kanzel herab. Nur die Grenze zum Privaten will Kattner unbedingt gewahrt wissen. "Was alle Menschen etwas angeht, gehört in die Predigt." Alles andere interessiere nur Voyeure. Wer zu viel und zu oft ins Private gleite, schaffe Misstrauen. "Wer will so jemandem noch etwas anvertrauen, wenn es im Zweifel in der Predigt landet?"

Wer sich umhört unter jenen, die Kattner als Dozent erleben konnten, erfährt viel Persönliches und doch auch Privates. Für den Raum abseits von Kirche und Kanzel lässt Kattner dies auch ausdrücklich zu – solange eine Grenze nicht überschritten wird: "Wenn es in einer Gruppe reihum um die Vorstellung von Predigtentwürfen geht, ist es zentral, dass alle erfahren: dies gelingt nur ohne Angst. Wo Schwäche ist, muss sie in der Gruppe gut aufgehoben sein", sagt Kattner. Etwas anderes schließt Kattner klar aus: Gruppeninterne Auseinandersetzungen, wer wann wen wodurch womöglich verletzt, bedrängt, irritiert hat. Die Suche nach sich selbst und der eigenen Sprache sei für alle in einer Gruppe schon genug der Dynamik.

Dass der Menschenfreund Kattner dabei geradezu legendäre Antennen hat für alles, womit eine Gruppe ins Schlingern zu kommen droht, ist eine unter den ehemaligen Vikarinnen und Vikaren gern geteilte Erfahrung. Zwischen Syntax, Wortwahl und dem Ausmerzen von Relativsatzketten, zwischen Theologie und Sozialwissenschaft oder Vers und Anekdote kreist Heinz Kattner in jeder Hinsicht um sein Herzensthema: die Liebe.

"Geliebt wirst Du einzig, wo Du schwach Dich zeigen darfst, ohne Stärke zu provozieren", statt aus der Bibel zitiert Kattner an dieser Stelle lieber Theodor W. Adorno. Und so hat er sein Erwachsenen-Leben dieser Mission verschrieben: Die Menschen zueinander zu bringen – im Kurs wie auf der Kanzel. Und das waren etliche tausend aus ganz Deutschland. Er selbst sieht sich dabei als ein Diener, "dass jeder Mensch seine Stärke entdeckt und zu seinen starken Texten kommt."

Predigerseminare, Akademien und gegründetes Sprachatelier hat Heinz Kattner hinter sich gelassen. Aus dem ausgebauten Dachgeschoss mit Blick auf grasende Ponies wie aus der Gartenschreibhütte heraus pflegt er Lyrik und Literaturzirkel, betreut Amtsneulinge in Superintendenturen und versucht sich dann und wann an Plänen für die Jahre, die da noch kommen mögen: Welche der nur noch schwer zählbaren Regalmeter mit Büchern und Akten kommen ins Archiv, was kann weg und was ist noch quälend offen ... Manche Entscheidung ist gefällt, sagt Kattner und lächelt. Anderes steht noch aus. Und über einiges geht am Ende ganz einfach ein verschmitztes Lächeln hinweg: "Zu diesen beiden Ordnerreihen oben im Arbeitszimmer – die stehen ja auf dem Fußboden unter der Schräge – da komme ich gar nicht mehr runter. Da müssen sich wohl andere irgendwann drum kümmern."

Und der Teich? Kattner lacht. Nun, die Folie ist geflickt. Und das Wasser kommt auch noch.

Rebekka Neander/EMA

Kattner übers Gendern

Sternchen, Binnen-I, Doppelpunkt - damit mag sich Heinz Kattner nicht beschäftigen. All die Sonderzeichen könnten nicht retten, was doch so dringend notwendig ist: "Wir brauchen ganz neue Begriffe, weil sich die Gesellschaft verändert." Es sei leider nunmal unabänderlich, dass sich die weibliche Form eines Wortes oft nur als Anhang an das Maskulinum darstelle. "Aber das bildet ja nicht ab, worum es geht." Er selbst nutze, wo es geht, bislang beide Formen. Soviel Zeit dürfe sein. Und davon bedürfe es noch viel, viel mehr. Bis sich Sprache auf eine geschlechtsneutrale Form eingerichtet habe, so Kattners Zeitenrechnung, vergingen schon mal 150 Jahre.

Kattner übers Politische

Ach, wie langweilen ihn solche Debatten ... Sind die Predigten heutiger Tage zu politisch? Ist die Bibel, ist das Evangelium ein rotgrünes Buch? Was dieser Tage durch die Feuilletons getrieben werde, ist für Heinz Kattner keine neue Frage. Etwas in einer Predigt zu instrumentalisieren, war für den Dozenten von je her ein Grundübel. Ganz egal, um welche politische Färbung es sich drehen mag.

"Das Evangelium ist eine gute Nachricht für alle, die sich über den Alltag hinaus nach einer besseren Welt sehnen. Es ist keine exklusive Stellungnahme zu wohlhabenden Menschen; sie auf Sozialkritik zu reduzieren wäre zu wenig." Kattner macht eine andere Gleichung auf: "Jede Handlungsintention ist politisch, deshalb gibt es keine unpolitische Predigt." Das einzige, was für ihn zähle, sei diese eine Frage: "Wenn jemand nicht über die Liebe redet, macht er etwas falsch."

Heinz Kattner hat dazu einen Brief ganz eigener Art verfasst.