Startseite Archiv Tagesthema vom 11. Oktober 2021

"Es muss noch viel passieren"

In den 1970-er Jahren hat es in einer evangelischen Kirchengemeinde im heutigen Kirchenkreis Melle-Georgsmarienhütte einen Fall von schwerer sexualisierter Gewalt gegeben. Im Februar 2021 hat die von diesem Fall betroffene Person einen Aufarbeitungsprozess initiiert.

Die vollständige Darstellung von Archivmeldungen befindet sich noch im Aufbau. Schauen Sie in Kürze noch mal vorbei!

Lisa Meyer wurde als Kind von einem angehenden Diakon schwer missbraucht. Jahrzehnte später bemüht sie sich um Aufarbeitung. Zu lange seien der Täter und die Kirche geschützt worden. Sie will nicht Opfer sein, sondern handeln - auch für andere.

Es war 1974 bei einer kirchlichen Freizeit, als sich der Diakon in Ausbildung, Siegfried G., zu Lisa Meyer ins Bett legte. Sie war damals elf Jahre alt, sagt Meyer heute. Mit einer Pressekonferenz will sie öffentlich machen, wie G. sie in den Jahren 1973 und 74 teils schwer missbraucht hat. Und sie will die Aufarbeitung voranbringen, in der Kirche, in der aus ihrer Sicht noch viel passieren muss. Gemeinsam mit der Evangelischen Landeskirche Hannovers, dem örtlichen Kirchenkreis und der Kirchengemeinde hat sie dazu am Montag (11. Oktober) zu einer Pressekonferenz eingeladen - in den Ortsteil Oesede in Georgsmarienhütte, dorthin, wo G. damals lebte und tätig war.

Um Anonymität zu wahren, benutzt Lisa Meyer ein Pseudonym. Ihr Statement wird in einem Video eingespielt, in dem sie unkenntlich bleibt. „Es dauert lange, bis man die Kraft findet, seine Stimme zu erheben“, sagt die Mittfünfzigerin. Sie schildert, wie sich Siegfried G. 1974 im Bett hinter sie und den Arm um sie legte. „Das war wie so eine Schraubzwinge.“ Dann habe er schweren sexuellen Missbrauch an ihr begangen. „Nach heutigem Straftatbestand ist das, was er gemacht hat, als Vergewaltigung einzuordnen.“ Noch am Abend habe sie sich unter Tränen einer Betreuerin anvertraut. „Sie hat mir nicht geglaubt, mich der Lüge bezichtigt und mir Ärger angedroht, sollte ich meine Vorwürfe nochmals wiederholen“, sagt Lisa Meyer. „Ich habe das danach niemandem mehr erzählt.“

Für Lisa Meyer markiert dies die erste Vertuschung von mehreren. Infolge des Missbrauchs erkrankte sie als Erwachsene an Depressionen und einer posttraumatischen Belastungsstörung, durchlief Therapien. Im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd) nennt sie den späteren Umgang mit ihrem Fall seitens der Kirche eine „Salamitaktik“. Prävention von Missbrauch sei wichtig, doch der Kirche fehlten bis heute transparente Strukturen, die es Betroffenen erleichtern, sich zu melden.

2010 gerieten Missbrauchsskandale in der katholischen Kirche in die Schlagzeilen. Die evangelische Kirche tat nach Lisa Meyers Eindruck so, als gebe es so etwas in ihren Reihen nicht. Daraufhin brach sie ihr Schweigen. Sie wandte sich an Burghard Krause, den damaligen Osnabrücker Landessuperintendenten. Dieser reagierte nach ihren Erinnerungen zwar freundlich und bot Hilfe bei der Suche nach einer Therapie an. Doch weder er noch der ebenfalls involvierte Justiziar der Landeskirche, Rainer Mainusch, hätten Weiteres veranlasst. Damals lebte der Täter noch.

Mainusch sagt heute: „Seinerzeit bestand keine Handlungsmöglichkeit, weil der Beschuldigte ja bereits entlassen war und deswegen nicht mehr arbeitsrechtlich belangt werden konnte.“ Strafrechtlich sei die Tat verjährt gewesen. Doch er räumt ein: „Gemessen an unseren heutigen Grundsätzen war es ein Fehler, die Kirchengemeinde nicht zu unterrichten.“ Auch Krause sieht das so, wie er auf Anfrage sagt.

Tatsächlich hatte die Gemeinde Siegfried G. bereits 1977 entlassen, nachdem unabhängig von Meyers Fall weitere Vorwürfe gegen ihn laut geworden waren. Angezeigt wurde der Täter jedoch nicht, sagt der Meller Superintendent Hannes Meyer-ten Thoren. Dies ergäben Unterlagen, die bei den von Lisa Meyer angestoßenen Recherchen Anfang 2021 in der Gemeinde entdeckt wurden. Vielmehr habe der damalige Kirchenvorstandsvorsitzende noch den erfolgreichen Abschluss des Anerkennungsjahres von Siegfried G. bescheinigt.

„Aus den Unterlagen wird deutlich, dass der Täter wohlwollend geschützt wurde“, sagt Meyer-ten Thoren, der heute mit seiner Stellvertreterin und Gemeindepastor Nils Donadell die Aufarbeitung vor Ort begleitet. „Über seine Opfer erfahre ich nichts.“ Dabei sei davon auszugehen, dass es noch weitaus mehr gebe.

Lisa Meyer spricht von einem „Freifahrtschein“ für einen „Serientäter“. Sie selbst habe schon 1973 beim Versteckspiel im Jugendkeller dessen sexuelle Übergriffe erfahren. „Er hat mich auch gegen meinen Willen geküsst und im Intimbereich berührt.“ Später war der Täter noch ehrenamtlich in einem Sportverein tätig.

Auch den Umgang mit Betroffenen von Missbrauch in der Kirche kritisiert Lisa Meyer. Als ab 2012 die evangelische Kirche Menschen, die von ihren Mitarbeitern missbraucht wurden, Geldbeträge zubilligte, habe sie davon zunächst nichts erfahren. Erst 2020 beantragte sie diese Anerkennungsleistung und bekam sie auch. Den Umgang der damals zuständigen Kirchenmitarbeiterin mit ihr habe sie allerdings als dilettantisch, unprofessionell und nicht emphatisch empfunden.

Unter neuer Leitung der Pastorin Karoline Läger-Reinbold baut die hannoversche Landeskirche derzeit ihre Anlaufstelle für Betroffene sexualisierter Gewalt aus. Die Auseinandersetzung mit dem Thema Missbrauch in der Kirche müsse enttabuisiert werden, sagt sie. Die Aufarbeitung im Fall Lisa Meyer könne schmerzhaft werden, „weil dann verstanden wird, was damals versäumt wurde“.

Lisa Meyer rät anderen Betroffenen, sich Unterstützung durch unabhängige Beraterinnen zu suchen. Sie will ihnen Mut machen, sich Gehör zu verschaffen. Erst nachdem sie angekündigt habe, ihren Fall öffentlich zu machen, habe sich seitens der Kirche wirklich etwas bewegt. Inzwischen haben die Kirchengemeinde Oesede und der Kirchenkreis Melle-Georgsmarienhütte die Aufarbeitung durch eine unabhängige Kommission beantragt. Lisa Meyer sagt: „Wir bleiben dran!“

EPD/ Karen Miether

"Der Blick von außen ist wichtig"

Die Sozialpädagogin und Soziotherapeutin Claudia Chodzinski steht als externe Beraterin Menschen nach sexuellem Missbrauch zur Seite. Besonders in der Auseinandersetzung mit Institutionen, zu denen etwa Kirchen, aber auch Kliniken oder Schulen zählen können, sei der Blick von außen wichtig, sagt sie.

epd: Frau Chodzinski, Sie begleiten aktuell Lisa Meyer, die als Kind von einem angehenden evangelischen Diakon schwer missbraucht wurde, bei der Aufarbeitung der Taten. Was ist dabei Ihre Rolle?
Claudia Chodzinski: "Ich bin freiberuflich tätig und unabhängig. Die hannoversche Landeskirche trägt aber die Kosten für eine solche Begleitung und auch für mögliche Therapien. Es ist wichtig, dass Betroffene von dieser Möglichkeit erfahren. Diese Form der Unterstützung ist wichtig. Es geht darum, sich jemanden zu suchen, der sich mit Grenzverletzungen und sexueller Gewalt auskennt und weiß, wie Institutionen ticken.
Für mich steht im Vordergrund, den Menschen, die Missbrauch erlebt haben, deutlich zu machen, dass nicht sie das Problem sind. Das Problem hat die Institution, innerhalb der Missbrauch verübt wurde. Die Betroffenen zweifeln oft, aber sie dürfen Fragen stellen und Anschuldigungen erheben."

epd: Sie sprechen von „traumatisierten Institutionen“, gehört die evangelische Kirche für Sie dazu?
Chodzinski: "Ja, davon können wir ausgehen. Die Kirche ist sowohl die traumatisierende, als auch die traumatisierte Institution. In traumatisierten Institutionen ist das Thema Missbrauch mit Tabus belegt, es wird geleugnet, negiert oder abgespalten. Durch die eigene Betroffenheit und Mit-Verantwortung wollen und können sich Menschen innerhalb der Institution den Wahrheiten des Missbrauchs nicht stellen.
Geschlossene Systeme, egal ob Familien oder Institutionen wie Kirchen, Schulen oder Kliniken bergen die große Gefahr, dass es Grenzverletzungen gibt - Missbrauch, Gewalt, Vernachlässigung. Wenn solche Traumatisierungen nicht aufgearbeitet werden und über Dinge nicht geredet wird, dann schwelen sie weiter vor sich hin und werden wiederholt. In der Kirche gibt es zwar eine Hierarchie, aber kaum Führungskompetenzen in bestimmten Bereichen. Man kritisiert und konfrontiert nicht seine Kollegen, schon gar nicht legt man offen, dass Grenzverletzungen beobachtet werden."

epd: Was halten Sie für notwendig?
Chodzinski: Geschlossene Systeme müssen sich öffnen. Zum Beispiel in der Aus-, Fort- und Weiterbildung müssen unabhängige Berater, aufrichtig gemeinte Betroffenenbeteiligung, externe Vernetzung und Partizipation zugelassen werden. Es muss vielfältige Außenperspektiven geben. Nur so werden kritische Fragen möglich sein und auch gestellt werden. Eine Frage könnte sein: Wie wird mit dem Seelsorgegeheimnis umgegangen? Schweigen in Missbrauchssituationen wird unter anderem damit begründet, davon in einer Seelsorgesituation gehört zu haben und damit handlungsunfähig zu sein."

epd-Gespräch: Karen Miether