Startseite Archiv Tagesthema vom 13. Juli 2021

Interview mit Militärseelsorger Stahlhut

Der Bundeswehr-Einsatz in Afghanistan ist zu Ende - aber noch nicht abgeschlossen. Deutschland muss seine afghanischen Helfer ausfliegen, weil die erstarkende Taliban sie und ihre Familien sonst tötet, erklärt Militärseelsorger Jürgen Stahlhut.

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Herr Stahlhut, der Afghanistan-Einsatz ist vorbei, die deutschen Soldaten sind zurückgekehrt. Wie nehmen Sie die Stimmung in der Truppe wahr nach diesem doch recht plötzlichen Ende?
Stahlhut: „So wie wir in den Einsatz hineingestolpert sind, so sind wir jetzt auch wieder hinausgestolpert – so hat es ein Soldat in der ,Welt am Sonntag‘ gesagt und das trifft es – denke ich – gut.. Eigentlich war man mit dem Einsatz noch nicht am Ende, aber ohne die amerikanischen Kräfte ist der Einsatz nicht fortführbar.“

Also ein bitterer Nachgeschmack?
Stahlhut: „Ja. Auch dadurch, dass weder die Kanzlerin, noch die Verteidigungsministerin oder der Außenminister am Flughafen waren, um die letzten Rückkehrenden zu empfangen. Das zeigt dieses „freundliche Desinteresse“ von Politik und Gesellschaft, wie es Bundespräsident Horst Köhler seiner Zeit formuliert hat. Und das ist traurig: Denn man muss sich immer wieder vergegenwärtigen, dass die Einsätze nicht ungefährlich sind. Die Soldatinnen und Soldaten sind bereit, im Notfall ihr Leben zu lassen. Als ich selbst in Afghanistan war, stand mir immer ein Soldat zur Seite, der für meine Unversehrtheit zuständig war. Die Soldatinnen und Soldaten müssen wissen, wofür sie das tun und dass Politik und Gesellschaft hinter ihnen stehen. Wir bräuchten eine viel breitere Debatte über die Einsätze, wofür wir die Menschen losschicken. Es hat mich bewegt zu sehen, wie sehr um solche Sinn-Fragen innerhalb der Bundeswehr selbst gerungen wird.“ 

Nun sind sie aus einem Krisengebiet zurück, es sieht aber nicht danach aus, dass in Afghanistan bald Frieden herrschen wird. Die Taliban rücken weiter vor, Nicht-Regierungsorganisationen fliegen ihre ausländischen Mitarbeitenden aus (s. Marginalspalte). Wie fällt für Sie die Bilanz des Einsatzes aus?
Stahlhut: „Die Soldaten und Soldatinnen haben ihre Aufgabe erfüllt. Sie haben die Konfliktparteien auseinandergehalten und Politik und Diplomatie Zeit gegeben, zu verhandeln – was aber nicht geschehen ist. Anfangs waren die Bundeswehr und ihre Partner hochwillkommen: sie sorgten für das Ende des islamistischen Terrors der Taliban und der Scharia, unter anderem die Steinigungen der Frauen. Nach ein paar Jahren aber, als politisch nichts weiter passierte, kippte die Stimmung.“ 

Was ist schiefgelaufen?
Stahlhut: „Ich denke, man hat auf westlicher Seite unterschätzt, wie viel Zeit und Ressourcen der Einsatz brauchen würde. Sicher, man stand unter dem Eindruck des 11. September, einer einmaligen Situation – und die Ziele waren sicherlich lobenswert: Schulen, Bildung für Mädchen, Demokratisierung… aber es wurde zu wenig mit den Leuten kommuniziert und gefragt, was sie eigentlich brauchen. Zu viel top-down und mitgebrachte Werte, statt Dialog.“

Wie hätte es besser laufen sollen?
Stahlhut: „Man hätte wohl viel früher mit den Afghanen gemeinsame Ziele verabreden müssen und nicht ihnen unsere westlichen Vorstellungen „überstülpen“ sollen. Ein Beispiel: Während der Vorausbildung für meinen Afghanistaneinsatz habe ich mit den Soldaten gemeinsam Spenden gesammelt, 20.000 Euro sind zusammengekommen. Über einen Dolmetscher und eine afghanische Frauenrechtlerin sind wir an eine UN-Organisation gekommen, die sich für geschiedene afghanische Frauen einsetzt. Die werden richtiggehend aus ihrem Dorf ausgeschlossen und müssen sehen, wie sie über die Runden kommen, oft allein mit ihren Kindern. Diese Organisation unterstützt Obstplantagen, auf denen die Frauen Arbeit finden. Sie sagten uns, dass es einen Ort bräuchte, wo die Kinder betreut sind, wenn die Frauen Obst auf dem Markt verkaufen. Und so haben wir einen Kindergarten gebaut. So sollte Hilfe aussehen - und da sind wir bei Jesus, der die Menschen immer fragte: ,Was möchtest du, das ich dir tue?‘“

Solche Projekte sind nun wohl endgültig zu Ende. Ist das Thema Afghanistan nun tatsächlich abgeschlossen oder bleibt es ein Thema in der Bundeswehr?
Stahlhut: „Wir sind mit dem Abzug noch nicht am Ende des Ganzen: Zum einen braucht es eine Nachbereitung für die Soldatinnen und Soldaten, manche kommen auch mit psychischen Problemen wieder. Dafür gibt es u.a. das Projekt ASEM (Arbeitsfeld Seelsorge für unter Einsatz- und Dienstfolgen leidende Menschen), das sich auch um die Angehörigen im Einsatz Geschädigter kümmert. - Und wir müssen uns um die afghanischen Menschen kümmern, die der Bundeswehr im Einsatz geholfen haben, die Ortskräfte. Sie sollen nach Deutschland geholt werden – das ist absolut notwendig. Denn diese Menschen, die für uns gedolmetscht, unsere Sicherheit gewährleistet oder auch einfach geputzt und Wäsche gewaschen haben, sind jetzt in Lebensgefahr. Die Taliban wissen, wer wo gearbeitet hat, nicht nur für uns Deutsche, sondern für alle ausländischen Einsatzkräfte. Und jetzt werden diese „Kollaborateure mit dem Feind“ systematisch beseitigt und ihre Familien gleich mit. Da gibt es keine Gnade.“

Wie gut gelingt der Schutz für die Helfenden?
Stahlhut: „Deutschland nimmt seine Verantwortung da – deutlicher als andere Nationen – wahr. Die ersten Familien sind vor kurzem in Fallingbostel angekommen. Das große Problem ist, dass nur diejenigen, die direkt bei der Bundeswehr angestellt waren, damit rechnen können, tatsächlich demnächst ausgeflogen zu werden. Das sind einige Tausend. Diejenigen, die z.B. bei afghanischen Unternehmen angestellt waren, die mit der Bundeswehr zusammengearbeitet haben, haben diesen Anspruch nicht direkt. Das sind aber nochmal einige tausend Menschen, die dringend Hilfe brauchen. Dieses Problem wird leider erst jetzt wahrgenommen, abzusehen war es schon länger.“

Also ist die Bundeswehr eigentlich raus aus Afghanistan, aber der Einsatz für die Menschen geht weiter?
Stahlhut: „Genau. Da läuft zusätzlich auch viel über persönliches Engagement: Ich kenne einen Soldaten, der schon vor 20 Jahren einen Verein gegründet hat und sich dafür einsetzt, dass die Menschen, die uns in Afghanistan geholfen haben, nun hier Hilfe bekommen, zum Beispiel beim Asylverfahren. Ich denke, dass das künftig auch für mich als Seelsorger ein Thema werden könnte, diesen Menschen bei der Ankunft zu helfen.“

Interview: Christine Warnecke/Themenraum

Hilfsorganisationen beklagen überstürzten NATO-Abzug

Die Afghanistan-Expertin Nadia Nashir hat die Bundesregierung aufgefordert, alle Ortskräfte, die in Afghanistan für die Bundeswehr gearbeitet haben, sowie deren Familien schnell nach Deutschland zu holen. Dolmetscher und andere ehemalige Helfer der Bundeswehr würden nach dem Truppenabzug von den Taliban bedroht. Sie hätten nicht einmal mehr eine Stelle in Afghanistan, an die sie sich wenden könnten, um ihre Anliegen vorzubringen und Visa zu beantragen, sagte die Vorsitzende des Afghanischen Frauenvereins in einem Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd).

Das Büro ihres Vereins bekomme Anfragen von Verwandten dieser Ortskräfte, die dringend um Hilfe bäten. Auch wenn erste Ortskräfte jetzt in Deutschland eingetroffen seien: „Wir sind weit davon entfernt, dass das geregelt wäre“, sagte Nashir, deren 1992 in Osnabrück gegründeter Verein seit kurzem in Hamburg ansässig ist.

Die Vereinsvorsitzende beklagte, der NATO-Truppenabzug sei viel zu schnell vonstatten gegangen und habe ein Vakuum hinterlassen. Die ausländischen Soldaten hätten dem afghanischen Militär kaum Ausrüstung überlassen. Die Taliban seien auf dem Vormarsch. Die Corona-Pandemie trage ebenfalls zur Destabilisierung bei: „Wir sehen das mit großer Sorge und fürchten, dass die Regierung irgendwann die Kontrolle verliert.“

In jedem Fall werde es für Frauen in Afghanistan wieder schwerer, sagte Nashir, die seit fast 30 Jahren mit ihrem Verein unter anderem Schulen und Gesundheitsstationen baut und unterstützt. In Bezirken, die die Taliban übernommen hätten, sei die Geschlechtertrennung etwa in den Schulen wieder eingeführt worden, die Frauen müssten wieder Burkas tragen. Aber die Frauen würden sich nicht mehr so leicht einschüchtern lassen.

Die Arbeit des Frauenvereins, der in den Provinzen Kundus, Kabul und Ghasni tätig ist, expandiere derzeit, sagte die Vorsitzende. „Wir bekommen von anderen Organisationen, die sich zum Teil zurückziehen, Anfragen, ob wir deren Projekte übernehmen.“ Auch aus der Bevölkerung gebe es immer wieder Bitten, Schulen und Krankenhäuser zu übernehmen und zu bauen. Nashir appelliert an die Bundesregierung, die humanitäre Hilfe für Afghanistan jetzt nicht einzustellen: „Der Hahn darf jetzt nicht zugedreht werden. Afghanistan darf nicht in Vergessenheit geraten.“

Zudem fordert Nashir, Deutschland müsse sich stärker als bisher in Friedensverhandlungen engagieren. Der Westen sollte die Zivilgesellschaft sowie Menschenrechtsaktivisten und -aktivistinnen unterstützen. Zudem müssten die NATO-Missionen der vergangenen 20 Jahre aufgearbeitet werden. Fehler wie die Unterstützung der Warlords mit Geld und Waffen müssten eingestanden werden, um das Vertrauen der Menschen zurückzugewinnen. Die NATO-Einsätze seien nicht gut koordiniert und nicht an den Bedürfnissen der Afghanen ausgerichtet gewesen, kritisierte Nashir. „Es sind allein 2,2 Billionen US-Dollar in das Land geflossen. Afghanistan müsste danach eigentlich ein blühendes Land sein.“

epd Niedersachsen-Bremen

Interview zum Amtsantritt

"Ich bin für die Soldat*innen da - und wenn es im Krieg ist."

Das ist die Überzeugung von Jürgen Stahlhut. Dabei hatte er vor dem Amtsantritt als Militärseelsorger kaum Berührungspunkte mit der Bundeswehr. 
Warum er besonders gern zu Weihnachten im Auslandseinsatz ist und welche Sorgen die Soldaten und Soldatinnen mit ihm teilen, lesen im Interview.