Startseite Archiv Tagesthema vom 13. April 2021

"Ich wusste ja nicht mal, wie das Licht angeht"

Arne Micheel war sehr froh, dass ein Notfallseelsorger da war, als einer seiner Söhne bei einem Autounfall starb und die Welt über seiner Familie zusammenbrach. "Ich finde es außergewöhnlich, dass die Kirche das jedem anbietet, ohne, dass es die Betroffenen irgendetwas kostet oder dass es eine Rolle spielt, ob sie gläubig oder Kirchenmitglieder sind.“

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"Im ersten Moment habe ich gedacht: 'Was will der denn hier?' Aber dann war ich sehr froh, dass es jemanden gab, der klar denken konnte. Ich wusste ja noch nicht mal, wie das Licht angeht."
So beschreibt Arne Micheel seine erste Begegnung mit Notfallseelsorger Eckhard Bock beinahe genau vor vier Jahren. Der Beverstedter Pastor saß bei Micheels am Tisch, weil an jenem Morgen ein Sohn der Familie bei einem schweren Autounfall ums Leben gekommen war.
 
Notfallseelsorger und -seelsorgerinnen - das sind im Kirchenkreis Wesermünde 23 Pastorinnen und Pastoren und ein Diakon. "Liegen nicht besondere Gründe vor, ist es als Pastorin oder Pastor bei uns verpflichtend, sich in der Notfallseelsorge zu engagieren. Das hat die Kirchenkreiskonferenz so beschlossen", sagt Pastor Bock. Eine Woche dauert in der Regel der Bereitschaftsdienst, dann wandert die Bereitschaft über das Notfallhandy zum nächsten Kollegen. Zu 30 bis 40 Einsätzen im Jahr werden die Seelsorger gerufen. "Das hört sich jetzt erst einmal nicht so viel an", sagt Bock. "Aber das bedeutet ungefähr alle zehn Tage einen Notfall." Notfallseelsorge gibt es in der Landeskirche Hannovers flächendeckend. "Auslöser war das ICE-Zugunglück von Eschede 1998", ergänzt Bock.

Alarmiert werden die Pastoren durch die Einsatzkräfte über die Leitstelle in Bremerhaven. "Wenn ich angerufen werde und es ist sehr weit entfernt, dann versuche ich zuerst, den Kollegen vor Ort zu erreichen." Ist das nicht möglich, setzt er sich ins Auto. "Meine Einsatztasche liegt dann schon im Kofferraum."
So eine Tasche hat jeder Notfallseelsorger für sich zusammengestellt. Eine Bibel befindet sich darin, ein Teddy, falls Kinder beteiligt sind, eine Kerze, ein kleines Holzkreuz, ein Engel und die lila Warnweste, an der die Notfallseelsorger zu erkennen sind. "Das ist besonders an einem Unfallort wichtig."
In der Tasche befindet sich auch ein Buch, in dem Gebete und Psalmen, Lieder und Segenssprüche zu finden sind. "Gerade wenn die Situation sehr belastend ist, ist es wichtig, dass man sich an den Texten festhalten kann", betont Bock. An diesem Morgen hat Arne Micheel 25 neue Exemplare mitgebracht, die der Ingenieur der Notfallseelsorge spendet.

Einen festen Ablaufplan am Einsatzort gibt es natürlich nicht: "Ich bin einfach da. Ich habe keine Aufgabenliste, die ich abarbeiten muss. Es ist gut, wenn die Betroffenen erzählen können. Aber vielleicht schweigen wir auch nur."
Es kommt aber auch vor, dass er weitere Angehörige abholt und heimbringt oder dass er mit der Familie überlegt, wer informiert werden muss. Ist jemand zu Hause gestorben, kann der Notfallseelsorger eine Aussegnung gestalten, bevor der Bestatter den Leichnam mitnimmt. Notärzte, Rettungsdienste und Polizisten müssten bald wieder gehen, der Notfallseelsorger bleibt: "Ich gehe erst wieder, wenn ich das Gefühl habe, dass es gut ist oder wenn Unterstützung da ist." Manche Einsatzkräfte von der Feuerwehr sieht Pastor Bock später wieder. "Nach besonders belastenden Einsätzen ist auch für die Feuerwehrleute manchmal ein Nachgespräch wichtig, um reden zu können und die schlimmen Bilder loszuwerden." 

Auch für Arne Micheel war es sehr hilfreich, dass ein Notfallseelsorger da war, als die Welt über seiner Familie zusammenbrach. "Ich finde es außergewöhnlich, dass die Kirche das jedem anbietet, ohne dass es die Betroffenen irgendetwas kostet oder dass es eine Rolle spielt, ob sie gläubig oder Kirchenmitglieder sind.“

Ute Schröder / Öffentlichkeitsarbeit im Kirchenkreis Wesermünde

Einsatzzahlen auf hohem Niveau

„Unsere Einsatzzahlen bewegen sich auf einem sehr hohen Niveau – trotz eines leichten Rückgangs im Jahr 2020“, sagt Joachim Wittchen, landeskirchlicher Beauftragter für die Notfallseelsorge (NFS) am Zentrum für Seelsorge und Beratung in Hannover. Im Jahr 2020 leisteten in insgesamt 1.638 Einsätzen Seelsorgerinnen und Seelsorger Hilfe im Notfall. 1.337 dieser Einsätze und damit mehr als 81 Prozent fanden im sogenannten innerhäuslichen Bereich statt.
 
„Wie auf vielen anderen Feldern auch, wurde und wird unsere Arbeit durch die Covid-19-Pandemie erschwert“, berichtet Wittchen. „Die Maske und der notwendige Abstand schaffen in einer Begleitungssituation eine große Distanz zwischen uns und den Betroffenen.“ Fast immer würden die Sicherheitsmaßnahmen jedoch akzeptiert; ihm selbst seien keine Fälle von Ablehnung bekannt.
 
Im ersten Lockdown im Frühjahr 2020 sei ein Rückgang bei den Alarmierungen der Notfallseelsorge festgestellt worden, berichtet Wittchen weiter: „Wir wurden nur dann gerufen, wenn es als absolut dringlich angesehen wurde. Sicher hatte das damit zu tun, dass Leitstellen, Rettungsdienste und Polizei nicht zusätzliche Menschen einer möglichen Ansteckung aussetzen wollten – zu diesem Zeitpunkt wussten wir alle ja noch wenig über das Virus.“ Der Rückgang der Einsatzzahlen wurde im Laufe des Jahres wieder aufgeholt: Die Summe der 2020 erfassten Einsätze bewegt sich auf dem Niveau der Vorjahre 2016 bis 2019.
 
Die Notfallseelsorge in der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers ist in 51 Systemen organisiert; in den meisten Fällen entsprechen diese Systeme dem Zuschnitt der Kirchenkreise. In den 49 Systemen, deren Zahlen für 2020 ausgewertet wurden, engagieren sich 795 hauptamtlich Tätige (überwiegend Pastor*innen und Diakon*innen) und 128 ausgebildete ehrenamtlich Tätige. „Wir legen großen Wert darauf, dass unsere Mitarbeitenden sorgfältig ausgebildet sind und insbesondere die ehrenamtlichen Kräfte vor Ort gut begleitet werden“, sagt Joachim Wittchen. 
 
Natürlich gebe es zu Corona-Zeiten auch bei Notfalleinsätzen ein Restrisiko, das jedoch auch bei Trauergesprächen oder anderen seelsorglichen Begegnungen nicht vermieden werden könne, ebenso wie beim Einkaufen oder bei der Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel. Einige wenige Mitarbeitende, die selbst zu einer Risikogruppe gehören, hätten sich vorübergehend aus der Notfallseelsorge zurückgezogen – eine Entscheidung, die selbstverständlich von den Teams akzeptiert werde.

Zentrums für Seelsorge und Beratung der Ev.-luth. Landeskirche Hannovers