Startseite Archiv Tagesthema vom 16. Februar 2021

Kältebusse in Niedersachsen: Heiße Nudeln und menschliche Wärme

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Für manche ist es die einzige Mahlzeit am Tag: Dreimal in der Woche ist in Hannover der Kältebus unterwegs. Ehrenamtliche versorgen Wohnungslose und andere Bedürftige mit warmen Mahlzeiten. Bei Minusgraden sind auch Kleidung und Decken gefragt.

Die klirrende Kälte macht Hannovers Innenstadt in den frühen Abendstunden noch einsamer als ohnehin im Corona-Lockdown. Feinschnee fällt dicht vom Himmel und legt sich über die zum Teil bereits hohen Verwehungen um die Nikolaikapelle nahe dem Steintor. Die Busunternehmen haben den Verkehr eingestellt. Doch vor Hauseingängen, um sich wenigstens etwas vor dem Wind zu schützen, warten einzelne Menschen auf einen Bus, der trotzdem noch fährt. Der "Kältebus" der Johanniter-Unfall-Hilfe versorgt im Winter Obdachlose und Bedürftige mit warmen Essen, Decken, Schlafsäcken und Kleidung.

   Rund 700.000 Menschen in Deutschland hatten nach Angaben der Bundesarbeitsgemeinschaft (BAG) Wohnungslosenhilfe 2018 keine eigene Wohnung. Rund 40.000 von ihnen leben ohne jegliche Unterkunft auf der Straße. Allein in diesem Winter sind Auswertungen der BAG zufolge bundesweit 17 Menschen erfroren. Um dem vorzubeugen, betreiben die Johanniter in Hannover, Oldenburg, Bremen, Aachen und dem Bonn/Rhein-Sieg-Kreis Kältebusse. 

 In Hannover ist die mobile Wärmestube seit fast 20 Jahren unterwegs. Rund 35 Ehrenamtliche kochen an drei Tagen in der Woche für die Bedürftigen und geben die Mahlzeiten an zwei zentralen Treffpunkten in der Stadt aus. An diesem Abend gibt es Nudeln mit Bolognese, dazu heiße Schokolade. Die Gäste tragen in eine Liste ein, was sie in den kommenden Tagen gerne hätten, sagt Koordinator Michael Jakobson und lächelt dabei stolz: "Wir erfüllen Wünsche." Chili con Carne mit Bohnen sei zwar durchaus beliebt, stehe derzeit aber nicht auf dem Plan. Für Menschen ohne Dach über dem Kopf eigne es sich schlecht, weiß Jakobson inzwischen: "Man schreckt nachts auf und muss schnell ein Klo suchen."

   Das Team verteilt im Schnitt mehr als 100 Portionen am Tag. Bei den aktuellen Minusgraden im zweistelligen Bereich kommen jedoch weniger Menschen vorbei. Jens (48) ist einer von ihnen. Er hat sich in mehrere Schichten Kleidung eingemummelt. "Ein T-Shirt, drei Kapuzenjacken, zwei Pullis, zwei Jacken, drei Hosen und drei paar Socken", zählt er auf.  Er komme aus dem Stadtteil Stöcken extra zum Essen in die City - zur Not auch zu Fuß, wie am Vortag, als die Straßenbahn nicht fuhr: "Das ist meine einzige Mahlzeit am Tag." 

   Der Mann mit dem dunklen Schnurrbart hat zwar eine Wohnung, doch derzeit weder Strom noch Heizung, wie er berichtet. Beim Sozial-Amt könne er wegen der Pandemie nicht persönlich vorsprechen. "Und ich habe weder Internet noch Telefon." Die Miete habe er "ewig nicht bezahlt", gesteht er, doch sein Vermieter, ein Freund, drücke ein Auge zu. Er stockt einen Augenblick, dann fährt er fort, ungefragt: Mit der Trennung von seiner Frau vor gut drei Jahren fing es an. "Dann war der Alkohol da." Danach habe er seinen Job verloren. "So bin ich abgerutscht." 

Eine der sechs Frauen, die mit dem Kältebus unterwegs sind, ist Kirsten Heinrich. An diesem Tag hat die 69-Jährige bereits Mützen, Socken, Schuhe, Einwegrasierer und Pflaster verteilt. "Um diese Menschen wird sich zu wenig gekümmert", sagt Heinrich. Doch nicht nur Essen und warme Kleidung zählten. Obdachlose und andere Menschen am sozialen Rand sehnten sich oft nach einer "normalen Ansprache". Sie plaudere deshalb gerne mal über Fußball. In ihrem Hauptberuf arbeitet Heinrich als freiberufliche Gesundheitstrainerin. Im Ehrenamt stößt sie manchmal an Grenzen, etwa wenn ein Mensch in Not sich nicht helfen lassen will. 

   "Neulich war es eine obdachlose Frau", erzählt Heinrich. "Sie hatte sich eine Wagenburg gebaut und uns immer wieder weggeschickt." Das müsse man dann hinnehmen, sagt sie. Aber leicht falle es ihr nicht. "Die Frauen gehen mir noch mehr ans Herz, weil sie es auf der Straße noch mal schwerer haben." In Hannover gibt es Schätzungen zufolge etwa 300 Obdachlose, in Bremen bis zu 600, darunter viele aus Rumänien und Bulgarien. 

   Eine ältere Frau nimmt zwei Portionen Essen mit. Ihr Mann passe in der U-Bahn-Station Kröpcke auf das "ganze Gepäck" der beiden auf. Sie würden dort unten übernachten - das sei zurzeit wegen der Minustemperaturen erlaubt. "So was hätte man auch nicht so erwartet." Für die Arbeit des Kältebusses ist sie dankbar: "Ohne diese Menschen, die sich so für uns engagieren, wäre es schon noch beschissener." Die Ehrenamtlichen freuen sich über die Rückmeldung. Die meisten Reaktionen seien positiv, berichtet Heinrich. "Es ist für uns auch schön, gefragt zu werden, wann wir wiederkommen."

Cristina Marina / epd

Diakonie Niedersachsen fordert mehr Hilfe

Wegen der Corona-Schutzmaßnahmen sind viele Hilfsangebote aktuell nur reduziert möglich. "Es ist gut, dass gerade jetzt die Kältebusse in den niedersächsischen Metropolen ihr Angebot ausweiten", sagt Vorstandssprecher Hans-Joachim Lenke von der Diakonie in Niedersachsen. "Auch dass Kirchen und andere Akteure ihre Türen öffnen, um unter Corona-Regeln zusätzliche Schlafplätze anzubieten, und unsere Mitarbeitenden der Wohnungslosenhilfe auf der Straße unterwegs sind, um über diese Hilfen zu informieren. Ich bitte aber auch alle Mitbürgerinnen und Mitbürger, wachsam zu sein und den Notruf zu wählen, wenn Sie den Eindruck haben, jemand droht zu erfrieren.“
 

Lenke regt eine grundsätzliche Neubewertung der Wohnungslosenhilfe an: "Wir müssen das Soziale neu denken. Es ist gut, dass derzeit wegen der Pandemielage Kommunen leerstehende Hotels anmieten und wohnungslosen Menschen mindestens vorübergehend ein festes und warmes Dach über dem Kopf gewähren. Dies ist aber nur eine kurzfristige Linderung der Not. Wichtig ist nun, gemeinsam über bedarfsorientierte Angebote für wohnungslose Menschen zu diskutieren, anstatt auf den nächsten Winter oder die nächste Pandemie zu warten. Grundsätzlich müssen wir uns in der Wohnungslosenhilfe von Gemeinschaftsunterkünften bzw. Mehrbettzimmern verabschieden. Dies ist keine angemessene Form, Menschen von der Straße die Möglichkeit zu eröffnen, ein anderes Leben zu beginnen." Es müsse nun konsequent eine differenzierte Wohnungsmarktpolitik in den Städten beginnen.