Startseite Archiv Tagesthema vom 09. Februar 2021

"Die Studierenden sehnen sich so sehr nach realen Treffen"

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Studium ohne echte Begegnung - das ist eine Zumutung für viele junge Menschen. Pastorinnen und Pastoren an den Hochschulen versuchen, ihnen in dieser Lage zu helfen. Lore Julius war bis zum 3. Februar verantwortlich für die evangelische Studierendengemeinde Osnabrück, nun arbeitet sie als Pastorin in Melle im Kirchenkreis Melle/Georgsmarienhütte. Die Situation junger Menschen liegt ihr weiter sehr am Herzen.

Frau Julius, Sie waren bis vor wenigen Tagen Pastorin der Evangelischen Studierendengemeinde in Osnabrück. Wie sieht es im Lockdown dort aus?
Julius: "Ich muss sagen, dass die Studis ein Riesenopfer in der Coronazeit bringen. Gerade, wer neu anfängt, hat es unglaublich schwer beim Kontaktaufbau und sieht manchmal wochenlang niemanden."

Hörsäle und Seminarräume bleiben seit Monaten leer, es gibt fast keine realen Begegnungen an den Hochschulen mehr. Wie wichtig sind gerade jetzt Pastorinnen und Pastoren an Unis und Fachhochschulen?
Julius: "Die seelsorgerliche Betreuung ist eine der wesentlichen Aufgaben und aktuell wohl nötiger denn je. Es ist sehr problematisch, dass die Studierenden von morgens bis abends am Computer sitzen und nur online ihre Veranstaltungen und Seminare haben. Die sehnen sich so sehr nach analogen Treffen."

Welche konkreten Auswirkungen hat dieser neue, digitale Studienalltag?
Julius: "Viele haben große Schwierigkeiten, weil es keine räumlichen Unterschiede mehr gibt. Die machen quasi alles in ihren Schlafzimmern. Manche geben sogar ihre Zimmer auf und ziehen zurück zu ihren Eltern. Und einige haben tatsächlich psychische Probleme, weil sie in ihrem kleinen Raum lernen, essen, schlafen und überhaupt keinen anderen Menschen mehr treffen. Das belastet manche, die nicht in einer WG oder im Wohnheim leben, schon arg."

Die Zahl der Studienanfänger ist zum aktuellen Wintersemester bundesweit erneut um vier Prozent gesunken. Lehre in Präsenz ist verboten, Mensen und Bibliotheken geschlossen. Wohin entwickelt sich das alles?
Julius: "Wer andere Studierende nur am Bildschirm kennenlernt, kann nur sehr bedingt Kontakte knüpfen. Es gibt zwar Fachschaften, die sich sehr bemühen und etwa digitale Spieleabende anbieten. Aber diese Lebensphase, in der manche Freundschaften fürs Leben geschlossen werden, wird vielen jungen Menschen gerade buchstäblich geraubt. Man merkt das auch an der Reaktion auf unsere Angebote: Themenabende zu allgemeinen gesellschaftspolitischen Fragen haben in dieser Zeit nur eine geringe Resonanz erfahren. Es gibt vor allem ein großes Bedürfnis der Studierenden nach realer Begegnung."

Was haben Sie als Verantwortliche für die Studierendengemeinde konkret getan, um zu helfen?
Julius: "Ganz praktisch haben wir unsere Räume als Lernraum angeboten, das wurde gern angenommen. Dazu haben wir im ersten Lockdown gleich digitale Andachten gestartet, das hatte anfangs etwas Tolles, Verbindendes, Grenzüberschreitendes. Da hat dann eine aus Diepholz die Lesung gemacht, jemand aus Braunschweig geflötet, einer aus Osnabrück gebetet. Aus Göttingen und Tübingen konnten sich Ehemalige dazuschalten. Aber dann wurden viele der digitalen Formate überdrüssig - schließlich sind sie inzwischen allgegenwärtig. Im Sommersemester haben wir dann zum Beispiel eine Radtour gemacht, draußen und auf Abstand. Das war toll und eine schöne Abwechslung. Inzwischen läuft fast alles wieder digital - nur die Andachten dürfen vor Ort stattfinden, unter Einhaltung der Hygieneregeln natürlich. Einen Moment zur Ruhe kommen und vielleicht neuen Halt finden, das können viele gerade sehr gut gebrauchen."

Um den Kontrast einmal deutlich zu machen: Was haben Sie vor Corona an der Arbeit in der Studierendengemeinde besonders geschätzt? 
Julius: "Lebendigkeit, Spontaneität, das Treffen von Menschen mit unterschiedlichen Lebensstilen. Offenheit und Austausch über Studium, Lebenswege und Glaubensfragen. Die Freiheit und Dynamik, die durch die Studierenden hereinkommt. Dazu Hochschulgottesdienste in der Katharinenkirche, ein ökumenischen Gospelchor mit zeitweise bis zu 90 Mitwirkenden, volle Konzerte zu Semesterende in der Markuskirche mit sprühender Musik, ökumenische Andachten, Wohnzimmerkonzerte und Freizeiten."

Ein wichtiger Bestand Ihrer Arbeit war auch die Betreuung internationaler Studierender. Wie geht es denen jetzt?
Julius: "Für die Internationalen Studierenden ist die Lage besonders schwierig, vor allem wenn sie erst im digitalen Semester angekommen sind. Eine Südkoreanerin, die ich kennengelernt habe, ist seit sechs Wochen hier in Deutschland. Die hat uns gesagt, sie hat außer ihrem Zimmer und dem Supermarkt noch nichts gesehen. In solch dramatischen Fällen sind wir heilfroh, dass wir ein Angebot zu Begegnung mit anderen Studierenden machen können. Zum Glück haben wir kurz vor dem aktuellen Lockdown einen neuen internationalen Treffpunkt gestartet, der nun auch digital weiterläuft."

Nun sind Sie Gemeindepastorin. Worauf freuen Sie sich jetzt?

Julius: "Ich freue mich auf die Zusammenarbeit mit allen Generationen, auf regelmäßige Sonntagsgottesdienste. Und natürlich darauf, Erfahrungen aus meiner vorherigen Arbeit einzubringen, etwa verstärkt danach zu schauen, welche Angebote und Ansprache für oder mit jungen Erwachsenen entwickelt werden können. Und ich hoffe sehr, dass Corona uns die Augen für ein stärkeres soziales Miteinander nachhaltig öffnet.
"

Interview: Brigitte Neuhaus, Öffentlichkeitsarbeit Sprengel Osnabrück / Alexander Nortrup, Themenraum der Landeskirche