Startseite Archiv Tagesthema vom 19. Januar 2021

Wohnungslosen in Not helfen? "Man muss ein bisschen Mut haben"

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Was kann ich tun, wenn mich die Not eines Menschen auf der Straße bewegt? Es ist Winter - und durch #Corona haben viele Anbieter ihre Hilfsangebote dramatisch eingeschränkt. Mike Wacker, Streetworker bei der Straßensozialarbeit Göttingen im Diakonieverband des Ev.-luth. Kirchenkreis Göttingen im Sprengel Hildesheim-Göttingen, hat ein paar ganz praktische Vorschläge für alle, die helfen möchten.

Herr Wacker, kann ich Ihre Berufsbezeichnung Streetworker wörtlich nehmen - also sind Sie auf der Straße unterwegs und schauen nach den Menschen, die sich irgendwo in der Stadt ein provisorisches Zuhause einrichten?

Mike Wacker: Ja, das mache ich, und das machen mehrere bei uns im Team, außerdem haben wir Ehrenamtliche, die uns unterstützen. Wir gehen montags bis freitags jeden Tag raus und suchen die Hotspots auf - Orte, wo sich Menschen draußen einrichten. Es melden sich tatsächlich auch häufig Anwohner und weisen auf Wohnungslose hin. Das freut uns, denn andererseits vertreiben auch Menschen eigenmächtig Obdachlose. Leider gilt das auch manchmal für Bankfilialen, deren Eingangsbereich nachts geöffnet ist. Da appelliere ich an die Verantwortlichen, möglichst Menschen dort zu dulden, die nach etwas Wärme suchen und sie bitte nicht zu verscheuchen.

Corona prägt seit dem Frühjahr 2020 unser aller Leben. Wie hat die Pandemie die Existenz von Hilfesuchenden auf der Straße verändert?
Es ist ein hartes Leben - und durch die Pandemie wird es nicht einfacher. Einige Leute leben vom Betteln und davon, Pfandflaschen zu sammeln. Weder das eine noch das andere geht gerade - denn es schlendern kaum noch Menschen durch die Fußgängerzone und werfen etwas in den Hut. Und leere Flaschen lassen vor allem Feiernde zurück, die bleiben aktuell aber zu Hause.

Wenn jemand helfen möchte: Was lässt sich tun?
Aktuell brauchen wir für die Wohnungslosen in Göttingen Handschuhe, Mützen und Schals. Dazu warme Jacken für Männer, je größer, desto besser. Wer eine solche Jacke hat, darf sie gern abgeben - ein bisschen wie Sankt Martin.

Und in der Stadt - da ist schon so viel getan, wenn der Mut da ist, nicht nur vorbeizugehen, sondern einen Menschen in Not anzusprechen, auf Augenhöhe. Es hilft enorm, nur drei oder fünf Minuten einfach zuzuhören. Und zu fragen: Was brauchen Sie? Vielleicht hören Sie dann: Wenn Sie morgen auf dem Weg zur Arbeit ein Brötchen mitbringen, wäre das eine große Hilfe. Wir haben das zu Beginn der Pandemie auch gemacht. Dann haben wir den Leuten Lunchpakete gebracht: Eine Dose Ravioli, ein Apfel, eine Banane, ein Brot, Süßigkeiten, Nüsse. Es braucht gar nicht viel, um zu helfen.

Viele Menschen haben Angst vor einem solchen Gespräch. Sie fürchten, es könnte sie überfordern. Was raten Sie denen?
Sie sollten sich vorher überlegen: Habe ich fünf bis zehn Minuten Zeit? Das und eine offene Grundhaltung - viel mehr braucht es gar nicht. Klar: Man muss auch ein bisschen Mut haben. Jemanden anzusprechen, das traut man sich nicht jeden Tag. Deshalb muss auch die Anspruchshaltung realistisch bleiben. Es geht nicht darum, jemanden zu retten oder zu heilen. Es geht um dieses kurze Gefühl: Jemand nimmt mich ernst und behandelt mich gut. Für viele andere Dinge gibt es ein gut ausgestattetes Hilfesystem. Sie können ein Gespräch jederzeit abbrechen, wenn Sie sich nicht wohl fühlen. Und wenn Sie wollen, können Sie stattdessen auch für eine Einrichtung oder Institution der Wohnungslosenhilfe spenden - egal ob hier in Göttingen, in Hannover oder anderswo. Dieses Geld ist wichtig und kommt direkt bei den Leuten an: Unser Wohnraumvermittler etwa wird auch über Drittmittel finanziert.

Sie unterhalten als Straßensozialarbeit Göttingen unter anderem einen Tagestreff. Ist der angesichts der Corona-Einschränkungen aktuell geöffnet?
Im ersten Shutdown mussten wir unseren Tagestreff tatsächlich zunächst schließen, haben ab Juni mit Hygienekonzept aber wieder Leute reingelassen. Es sind zwei große Räume, nicht weit entfernt von der City. Vor Corona hatten wir da Platz für bis zu 25 Leute. Nun darf immer eine Person pro Raum rein, zeitlich begrenzt für eine halbe Stunde. Sollte niemand anderes wollen, kann man auch verlängern.

Was fürchten Sie mehr: Infektionen oder Isolation?
Ganz klar: Isolation. Wir können es mit Hygienekonzept und strikten Abstandsregeln gut vertreten, dass wir uns weiter kümmern. Alles andere wäre für viele Hilfesuchende eine mittlere Katastrophe. Es ist einfach unglaublich wichtig, dass die Leute sich aufwärmen und auch duschen können. Wir halten auch ansonsten die Stellung, gehen weiter auf die Straße und machen in unserer Anlaufstelle auch weiter Beratung. Nur sprechen wir mit den Hilfesuchenden nun eben durchs Fenster.

Welche Angebote machen Sie jenseits von Duschen und Aufwärmen?
Es gibt so vieles, das trotz Pandemie einfach weiterlaufen muss: Von der Sozial- über die Schuldenberatung bis zur Ausgabe von Post, die mehr als 100 Menschen ohne Meldeadresse hier nutzen. Die können sich Briefe zu unseren Öffnungszeiten abholen, jeden Tag, durchs Fenster - Lockdown hin oder her.
Ein anderes, ganz wichtiges Angebot ist die Wohnraumvermittlung. Einer meiner Kollegen ist nur dafür zuständig - er ist seit vielen Jahren dabei und hat viele gute Kontakte zu Vermietern. Aber er hat trotzdem eine extrem schwierige Aufgabe: Der Wohnungsmarkt ist katastrophal hier, es gibt null Prozent Leerstand in der Stadt. Und viele Wohnungslose haben Schulden oder Schufa-Einträge, psychische oder Suchtprobleme. Vermieter sind meist nicht an ihnen interessiert. Eine Wohnung ist nicht alles, aber ohne Wohnung ist alles nichts: Von der Straße aus Schulden regulieren, das ist realitätsfern. Jeder braucht einen Rückzugsort, um das Leben wieder nach und nach aufzubauen.

Interview: Alexander Nortrup

"Der Winter wird durch Corona noch gefährlicher"

Die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe fordert wegen der Corona-Pandemie mehr kommunale Notunterkünfte für Obdachlose. "Wir befürchten, dass für wohnungslose Menschen der Corona-Winter noch gefährlicher wird", sagte Geschäftsführerin Werena Rosenke Anfang Januar der Düsseldorfer "Rheinischen Post". Derzeit falle das Angebot an Unterkünften oft knapper aus, um die Abstandsvorschriften einhalten zu können. Blieben die Sammelunterkünfte hingegen bei der üblichen Belegung, erhöhe sich das Infektionsrisiko.

"Benötigt werden Unterkünfte, in denen man sich auch tagsüber aufhalten kann", betonte Rosenke. Befristungen des Aufenthaltes auf einen oder wenige Tage pro Monat müssten beendet werden. 

Die Geschäftsführerin forderte zudem mehr finanzielle Unterstützung für Corona-Tests. "In den meisten Fällen müssen die Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe die Kosten für Testungen selbst finanzieren - weder Bund, Länder noch Kommunen beteiligen sich ausreichend an den Kosten", kritisierte Rosenke. "Dies bringt viele Einrichtungen schnell an ihre finanziellen Grenzen." Wohnungslosen Menschen müsse auch ein niedrigschwelliger Zugang zu Impfungen ermöglicht werden.

Seit 1991 sind nach Angaben der Organisation mindestens 320 Kältetote unter den Wohnungslosen in Deutschland zu beklagen. In diesem Jahr seien bereits mindestens zwei Obdachlose erfroren. Rund 41.000 Menschen lebten in Deutschland auf der Straße.

epd