Startseite Archiv Tagesthema vom 04. Januar 2021

Walhaut unter der Fingerkuppe

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Andreas Chrzanowski streicht über die Seite in einem Ringbuch. Das Ungeheuer «Grüffelo» aus dem Kinderbuchklassiker ist zu sehen, aber auch zu ertasten. Wie kleine Plastikwülste heben sich die Eckzähne hervor. Sie sind glatt, ganz anders als die Tatzen aus rauem Schleifpapier, an denen die Fingerkuppe kurz hängen bleibt. "Blinde Kinder erfassen ihre Umwelt vornehmlich über das Fühlen", erklärt der Blindenseelsorger der hannoverschen Landeskirche.

Was beim «Grüffelo» geht, soll jetzt auch bei Bibelgeschichten möglich werden: Gemeinsam mit anderen will Chrzanowski erstmals eine biblische Erzählung als Fühlbuch herausgeben. Einen Prototypen hat der Pastor gemeinsam mit Rainer Delgado vom Deutschen Blinden- und
Sehbehindertenverband sowie dem Dachverband der evangelischen
Blinden- und Sehbehindertenseelsorge schon erarbeitet: Es geht um die
Geschichte vom Propheten Jona, den ein Wal verschluckt.

Die Jona-Figur lässt sich herausnehmen und in einen aus Stoff genähten Wal stopfen. Wenn im Buch der Wal den Propheten wieder an Land speit, können die Kinder ihn herausziehen. Die Walhaut fühlt sich kühl an. Das Meer besteht aus einer Latexbahn, mit der sich sogar Wellen schlagen lassen. Andere Elemente sollen mit UV-Lack gedruckt werden, in mehreren Schichten, damit sich die Punktschrift gut abhebt und Strukturen fühlbar werden.

Es sei geplant, eine ganze Bibelbuch-Reihe für Kinder zu entwickeln, sagt Barbara Brusius vom Dachverband der evangelischen Blinden- und Sehbehindertenseelsorge in Kassel: "Aus unserer Sicht sind biblische Geschichten elementar für die Entwicklung eines Menschen.
Delgado hat schon mehrere Fühlbücher konzipiert. "Es ist schwierig, ein tastbares Bild zu machen, das ein blindes Kind auch versteht", sagt er. Er selbst ist seit 20 Jahren blind und hat erfahren, dass etwa manch gut gemeintes Tast-Modell einer Sehenswürdigkeit auch für Erwachsene kaum zu entschlüsseln ist. Wenn ein Baum direkt hinter einem Auto steht, sei das für Sehende klar abgrenzbar. "Aber diese Art von Eindruck von der Welt haben blinde Kinder nicht." Die Fühlelemente sollten sich außerdem möglichst genau so anfühlen, wie das, was dargestellt ist.

Vom Jona-Buch sollen laut Chrzanowski zunächst 200 Exemplare entstehen. Das ist aufwendig und teuer. Neben der Braille-Schrift, die viel Platz erfordert, und den tastbaren Elementen enthalten die Bücher auch Buchstaben in der Schwarzschrift der Sehenden. Eltern sollen sie gemeinsam mit den Kindern lesen können.

„Unsere Bilder müssen mehr erreichen, als sich nur gut anzufühlen“, sagt Chrzanowski, der als junger Erwachsener erblindet ist. Vieles gibt es zu beachten: Von Geburt an blinde Kinder entwickelten zum Beispiel erst mit der Zeit eine Vorstellung von Dreidimensionalität. Die Fühlelemente müssten zudem stabil sein.

Louis Braille, der 1825 mit 16 Jahren seine Blindenschrift ausgetüftelt hatte, ist für den evangelischen Pastor noch immer beispielgebend, wenn es darum geht, aus der Perspektive der Blinden zu denken. Die ersten Blindenschriften nahmen Alphabete der Sehenden als Grundlage, die tastbar geprägt waren. Dem als Kind erblindeten Braille war das zu kompliziert. Seine Punkt-Schrift lässt sich dagegen leicht mit den Fingerkuppen erfassen. Sie war eine Revolution und wird bis heute verwendet.

Aufklappbare Fenster, handgenähte Figuren - meist arbeiten die Macher mit Ehrenamtlichen oder Behindertenwerkstätten zusammen, damit die Fühlbücher bezahlbar bleiben. Rund 6.000 bis 7.000 blinde oder stark sehbehinderte Kinder zwischen zwei und zehn Jahren gibt in Deutschland, schätzt Delgado, der beim Blinden- und Sehbehindertenverband in Berlin als Sozialreferent arbeitet. Die Zahl der Schüler mit entsprechendem Förderbedarf gebe einen Anhaltspunkt, genaue Erhebungen fehlten. Für sie seien vielleicht 30 verschiedene taktile Bücher erhältlich, während gleichaltrige Sehende Regalwände voll zur Auswahl hätten.

Die Fühlbibel wird aber auch farbenfrohe Bilder enthalten, sagt Chrzanowski. Diese könnten von Sehbehinderten noch gut wahrgenommen werden. Und außerdem wird es so ein Buch für alle: ein Buch, das Sehende und Nichtsehende gemeinsam ertasten und begucken können.

epd/Karen Miether

Die Christoffel Blindenmission

Während die anderen Papier und Stift zur Hand nehmen, greift Julienne im Unterricht zur Braille-Tafel. Die 13-Jährige aus Kamerun ist blind, und sie gehört zu den Besten in ihrer Klasse. Schnell flitzen ihre Finger über die Schreibtafel. Sie drücken mit dem Griffel die Punkte in das eingelegte Blatt der aufklappbaren Tafel. Inzwischen ist Julienne genauso flink wie ihre Mitschülerinnern und Mitschüler, wenn sie sich Notizen macht oder ihre Klassenarbeiten schreibt.

1825 erfand Louis Braille die Blindenschrift, die jeden Buchstaben durch eine Kombination aus sechs Punkten ersetzt. Ein Meilenstein, der zahlreichen Menschen rund um den Globus das Lesen und Schreiben ermöglicht – und ihnen den Weg zu Schule und Beruf öffnet.

Anlässlich des Welt-Braille-Tags am 4. Januar erinnert die Christoffel-Blindenmission (CBM) an die Bedeutung dieser Punktschrift für blinde und sehbehinderte Menschen. Weltweit sind 36 Millionen Menschen blind. Die meisten von ihnen leben in Entwicklungsländern. „Dort sind blinde Kinder häufig noch immer vom Schulbesuch ausgeschlossen“, sagt CBM-Vorstand Dr. Rainer Brockhaus. „Deshalb setzt sich die CBM in ihren Projekten dafür ein, dass diese Kinder Braille-Schrift lernen und zur Schule gehen können.“ 

So war es auch bei Julienne. Das Mädchen kommt aus einer abgelegenen Region, drei Autostunden von der Hauptstadt Yaoundé entfernt. „In unserem Dorf gab es keine Schule für Kinder, die wie ich nicht sehen können“, berichtet Julienne. Sie ist das jüngste von sieben Kindern. Ihre Eltern haben nicht das Geld, sie auf eine der wenigen inklusiven Schulen im Land zu schicken. Ohne die Hilfe des CBM-Partners Promhandicam hätte Julienne keinen Zugang zu Bildung und zu all den Möglichkeiten, die sich dadurch jetzt für sie eröffnen. Promhandicam ermöglichte dem Mädchen, die von ihm geförderte inklusive Schule in Yaoundé zu besuchen. Julienne fühlt sich wohl in dieser Schule, in der Kinder mit und ohne Behinderung gemeinsam lernen und spielen. Wie viele ihrer Mitschüler, die aus ganz Kamerun hierherkommen, wohnt sie im angeschlossenen Internat. Der CBM-Partner trägt die Kosten für die Unterkunft, den Schulbesuch und die Braillematerialien.

Julienne hat große Pläne für die Zukunft: Sie will einen sozialen Beruf ergreifen, anderen Menschen helfen und dafür nach dem Schulabschluss eine Ausbildung machen. Ihre Chancen stehen gut. Denn hier bekommt sie die Förderung, die sie braucht, um einmal allein im Leben zurecht zu kommen. Damit sie, so wie alle anderen auch, ihren Weg geht und ihr Land später mit ihren Fähigkeiten bereichert.

Die Christoffel-Blindenmission (CBM) zählt zu den größten und ältesten Organisationen der Entwicklungszusammenarbeit in Deutschland. Sie fördert seit mehr als 110 Jahren Menschen mit Behinderungen in Entwicklungsländern. Die Aufgabe der CBM ist es, das Leben von Menschen mit Behinderungen zu verbessern, Behinderungen zu vermeiden und gesellschaftliche Barrieren abzubauen. Die CBM unterstützt zurzeit 540 Projekte in 51 Ländern. Weitere Informationen auf der Webseite der Blindenmission.

CBM