Startseite Archiv Tagesthema vom 15. Oktober 2020

"Wie ich es aufzeichne, beeinflusst meine Weltsicht."

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Etwa 3.000 Kilometer liegen hinter ihr - zu Fuß bis ins spanische Santiago de Compostela. Als sie am 12. Juni an der Pilgerroute "Via Scandinavica" vor dem Kloster Medingen in Niedersachsen aufbrach, war sie sicher: "Anzukommen wird auch ein Geschenk sein". Nun sagt die 55-Jährige: "Die Rückkehr wird das Schwerste." Die Reise habe sie verändert, sagt Meer, "auch wenn sich rein objektiv an meiner Situation nichts verändert hat."

Die Corona-Pandemie beraubte sie ihrer Geschäftsgrundlage. Alle Aufträge brachen der selbstständigen Grafikerin weg, finanziell ein Desaster. "Doch in anderer Hinsicht eine Chance." Von ihrem Zuhause nahe Bad Bevensen in der Lüneburger Heide den Jakobsweg zu gehen, sei für sie ein Traum gewesen. Mehrere Monate Auszeit zu nehmen, wäre unter normalen Umständen allerdings nicht möglich gewesen. Unterwegs hat Meer manche Bekanntschaft gemacht, die unter ganz ähnlichen Vorzeichen ihre Pilgerreise angetreten habe. "'Ich bin unterwegs wegen Corona' ist ein Satz, den man öfter hört", sagt sie.

"Oft ist es bei den anderen wie bei mir. Der Job ist weg oder die Kunden sind weg", sagt Meer. Corona ist einerseits ein wiederkehrendes Element auf ihrer Pilgerreise. Als die Zeichnerin sich auf den Weg machte, war die Grenze zu Spanien wegen der Pandemie noch geschlossen. Wenn Meer nun in Herbergen einkehrt wird teilweise ihr Rucksack desinfiziert. "Manche messen auch Fieber bei den Pilgern - andere machen nichts von alledem. Unter den zurückgegangenen Gästezahlen leiden sie trotzdem." Im krassen Gegensatz dazu stehen andererseits die Wegstrecken: "Wir sind draußen in der Natur - da ist Corona dann plötzlich kein Thema."

Ständige Begleiter waren unterwegs Papierbögen, Bleistifte, Fineliner und Aquarellfarben. So zeichnet Meer immer noch täglich und hat darüber auf ihren sozialen Kanälen viele neue Follower gewonnen. "Teilweise unterstützen mich diese Menschen auch finanziell, indem sie Beträge für Comics bezahlen, die sie eigentlich umsonst bekommen." Für diese Art von Unterstützung sei sie sehr dankbar. Insgesamt sei Dankbarkeit auf vielen Ebenen ein beherrschendes Thema ihrer Reise geworden. "Ich bin fast 3.000 Kilometer gegangen und körperlich und geistig gesund durchgekommen - wenn ich dafür nicht dankbar bin, wofür dann?"

In den jeweils sechs bis acht Bildern ihrer Comic-Geschichten wenden sich Dinge zumeist ins Positive. "Wie ich es aufzeichne, beeinflusst meine Weltsicht." Neben ihr selbst mit dem markanten Rotschopf spielt ein kleiner Drache eine Hauptrolle: "Menno" - Sidekick und Alter Ego, der auch mal Faxen macht oder sich beschwert. Selbst Gott hat in den Strips eine Gastrolle: "Frau G." behütet die Protagonisten auf ihrem Weg.

Beruflich hat Meer, die Kunst studiert hat, schon einmal umgesattelt - von der Bildhauerei zur Grafikerin. "Inzwischen bin ich eine Comiczeichnerin", sagt sie und hofft, dass sich nach dem Pilgern wieder neue Wege öffnen. Regelmäßig schickt sie die Zeichenblätter mit den Comics zu ihrer Frau nach Hause: "Daraus möchte ich gerne ein Buch machen."

Vom Pilgern hat Meer erst einmal genug. "Ich habe nichts in mir, das sagt, ich könnte noch weitermachen oder müsste nächstes Jahr gleich wieder los. Es war eine wunderbare Erfahrung, aber es ist jetzt auch gut", sagt sie mit einem Lachen. Mit dem Zug wird sie die Heimreise antreten. Und dann? Ankommen, die eigene Kaffeetasse wieder wertschätzen, vielleicht die Lebensgeschichte von jemand anderem zeichnen. "Irgendwas machen, das den Fokus weg von mir selbst lenkt." Meer hat Respekt vor der Zeit, die vor ihr liegt. "Ich habe keine Ahnung, was kommt. Insofern wird das Ankommen fast so spannend, wie das Losgehen."

epd Niedersachsen-Bremen