Startseite Archiv Tagesthema vom 01. September 2020

"Solange wir handeln, haben wir Hoffnung"

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Eliten, die sich nicht um die Bevölkerung kümmern, hohe Arbeitslosigkeit, ein Land im Quasi-Bankrott: Tausende Menschen im Libanon demonstrieren schon seit Monaten gegen die Regierung ihres Landes, die sie für eine schwere Krise verantwortlich sehen. Der Corona-Lockdown hat der schwachen Wirtschaft weiter geschadet und die Explosion im Beiruter Hafen Anfang August hat hunderttausende Häuser zerstört und viele Menschen traumatisiert, für viele ist an einen Alltag nicht zu denken.

Viele Hilfsorganisationen sind deshalb vor Ort. Die Landeskirche Hannovers unterstützt schon seit einigen Jahren evangelische Schulen für geflüchtete syrische Kinder im Libanon, die in Trägerschaft der Evangelischen Kirche in Syrien und im Libanon sind. Sie unterstützt auch die Soforthilfe, die die Evangelische Kirche für Familien nach der verheerenden Explosion in Beirut am 4. August leistet.

Wie geht es in dem Land nun weiter? Georges Ziadeh, Direktor der Compassion Protestant Society (CPS), dem Diakonischen Arm der ev. Kirchen in Syrien und dem Libanon (NESSL), erklärt im Interview, wie die Hilfe in dem krisengeschüttelten Land ankommt und wie trotz Corona-Pandemie und Wirtschaftskrise geflüchtete Kinder weiter Schulbildung bekommen sollen.

Herr Ziadeh, wie ist die aktuelle Lage im Libanon?

Ziadeh: „Leider sind wir seit zwei Wochen wieder in einem strengen Lockdown, weil sich die Infektionszahlen dramatisch entwickelt haben, beinahe wie zu Beginn der Pandemie in Italien. Das heißt, wer nicht in bestimmten Bereichen wie der Gesundheit oder für eine NGO (,Non-governmental organisation' - Nicht-Regierungsorganisation) arbeitet, darf nicht aus dem Haus und nach 18 Uhr darf niemand mehr hinaus. Die Lage hat sich durch die Explosion in Beirut deutlich verschlechtert – wir hatten drei, vier völlig chaotische Tage, in denen niemand auf Abstandsregeln und Corona-Prävention geachtet hat – jeder ist auf die Straße gegangen und wollte nur irgendwie helfen, Verletzte und Tote zu bergen und Überlebende zu versorgen. Unser größtes Krankenhaus, das die erste Linie in der Corona-Bekämpfung war, wurde zerstört - jetzt gibt es nicht genug Betten für alle Infizierten.“

Wie hilft CPS aktuell?

Ziadeh: „Wir als NGO können trotz des Lockdowns arbeiten und auf den Straßen helfen. 300.000 Libanesen sind durch die Explosion obdachlos geworden. Wir versorgen etwa 100 Familien mit Nahrungsmittel-Gutscheinen, die sie in Supermärkten für alles, was sie brauchen, einlösen können. Ausgenommen sind nur Alkohol und Tabak. Das ist die erste Hilfe, die wir mit über einem Dutzend anderen NGOs koordinieren, wir sind explizit zuständig für das Viertel Karantina in Beirut, in dem viele syrische Flüchtlinge wohnen. Über 60 von ihnen sind bei der Explosion gestorben. Die Hannoversche Landeskirche unterstützt unser Hilfs-Programm, das insgesamt 150.000 Euro kostet. Mit dem Programm können wir 400 syrische Flüchtlingsfamilien und Gastfamilien von syrischen Flüchtlingskindern versorgen. Sie bekommen Nahrungsmittel-Voucher und Hygiene-Pakete, die zum Beispiel Masken und Seife enthalten.“

Wie kommen die Menschen zurecht?

Ziadeh: „Viele brauchen eigentlich psychologische Hilfe. Was hier passiert ist, ist nicht normal, es war wohl die drittgrößte Explosion der Geschichte, nach den Atombomben von Hiroshima und Nagasaki. Halb Beirut ist zerstört, es gab über 200 Tote und 6.000 Verletzte - in einem so kleinen Land kennt also jeder jemanden, der oder die von der Explosion betroffen ist. Das ganze Land war schockiert, traumatisiert. Ich selbst war etwa 50 Kilometer von Beirut entfernt, aber sogar bei uns haben die Fensterscheiben geklirrt. Wir dachten, etwas wäre in unserer Straße explodiert, wir waren sehr verängstigt.

Aber: es beeindruckt mich, wie die Leute nun zusammenhalten: All die Freiwilligen, die unermüdlich im Einsatz sind, Straßen aufräumen, Essen verteilen, Türen in Gebäude einsetzen, damit die Menschen wenigstens darin schlafen können.“

Was ist das Wichtigste nun für die Libanesen?

Ziadeh: „Wir haben drei Bedürfnisse ausgemacht: erstens medizinische Hilfe – die können wir als CPS nicht leisten, dafür aber zwei andere Dinge: wie schon beschrieben Lebensmittel und zweitens Schutz, also Obdach. Außerdem haben wir ein Fundraising-Projekt gestartet: „Beirut Hope“: wenn wir unser Ziel von einer Million Dollar erreichen, können wir davon 1.000 Familien helfen, ihre Häuser wieder aufzubauen. Das ist nur ein kleiner Beitrag, wenn man hört, dass es 5 Milliarden Euro bräuchte, um Beirut wieder aufzubauen. Aber auch kleine Beiträge helfen ganz konkret. Es kommt so viel Unglück zusammen: Wir haben den Währungsverfall, der die Preise steigen lässt, den Corona-Lockdown für zunächst eineinhalb Monate und nun ein weiteres Mal starke Einschränkungen, wir haben eine Million syrische und eine halbe Million palästinensische Flüchtlinge in einem Land, das selbst nur etwa vier Millionen Einwohner hat – das ruiniert das Land."

Schauen wir auf die Schulen – für die Kinder bedeutet sie im Regelfall nicht nur eine Beschäftigung, sondern oft auch die einzige Bildung für ihr Leben. Sie versuchen etwas Normalität zu vermitteln, Christ*innen und muslimische Schüler*innen lernen gemeinsam. Wie können die Schulen derzeit arbeiten?

Ziadeh: „Aktuell sind Ferien, aber die Schulen arbeiten hart daran, dass die Kinder ab Oktober in das neue Schuljahr starten können. Derzeit ist der Plan, zumindest 50 Prozent online zu unterrichten. Das ist eine große Herausforderung, weil wir die Flüchtlinge mit Internet versorgen müssen. Die Regionen, in denen unsere Camps sind, sind schlecht erschlossen – wir müssen unser Budget dafür neu planen. Wir arbeiten an einem Plan, wie wir alle Kinder online erreichen können – und vielleicht auch einen Teil in den Schulen mit Präsensunterricht leisten können. Wir lassen es nicht zu, dass die Kinder ohne Schule bleiben.“

Wie kann Schule online aussehen?

Ziadeh: „Im Juni haben wir schon einen kleinen Test in einer der Schulen gemacht, mit Whatsapp. Jede Klasse hatte einen Gruppen-Chat, die Lehrer haben Videos aufgenommen und die Kinder konnten per Sprachnachricht oder auch schriftlich Fragen dazu stellen. Andere Lehrer haben Aufgaben persönlich zu den Familien nach Hause gebracht. Das ist zwar nicht der ideale Unterricht, aber so halten wir den Kontakt. Jeden Tag waren quasi 100 Prozent der Kinder dabei, sie wollen lernen.“ 

Wirtschafts- und Regierungskrise, Corona und die Explosion in Beirut – die Libanesen kämpfen an mehreren Fronten. Woher nehmen sie die Kraft, trotz all dem weiterzumachen?

Ziadeh: „Der Libanon ist ein 6.000 Jahre altes Land, es wird schon in der Bibel erwähnt. Wir glauben, dass wir nicht allein sind, dass Gott uns unterstützten wird und wir wieder auferstehen werden, wie der Phönix aus der Asche, der das Wappentier der CPS ist. Die Libanesen lieben das Leben, sie wollen das Leben genießen und deswegen haben wir noch immer Hoffnung, solange wir handeln. Jede kleine Handlung zählt. Wir beten, wir arbeiten hart, wir glauben daran, dass wir dann ein gutes Ergebnis haben werden.“

Christine Warnecke

Die NESSL

Die Ev. Kirche in Syrien und dem Libanon (National Evangelical Church of Syria and Lebanon, kurz NESSL) betreibt im Libanon vier Schulen für geflüchtete syrische Kinder zwischen 6 und 14 Jahren. Für viele bleibt es die einzige Bildung ihres Lebens. Christliche und muslimische Schüler*innen lernen gemeinsam in den Schulen, in denen das Miteinander wichtig ist.

Die Landeskirche Hannovers unterstützt diese Schulen und organisiert auch persönliche Begegnungen, etwa den Besuch von Lehramtsstudent*innen. Rund 200.000 Euro sind bisher aus landeskirchlichen Mitteln in den Libanon geflossen, hinzukommen Spenden und Kollekten. Mehr dazu lesen Sie hier.