Startseite Archiv Tagesthema vom 04. August 2020

"Ich weiß, dass da jemand ist, der auf mich aufpasst"

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In Tobias Schmidts Gemeinde steppt der Bär. Der Pastor fängt die Predigt schon mal mit einem Witz an, der Kirchenchor singt „Knockin’ on Heaven’s Door“ und manchmal werden die Sänger – nicht nur in der Kirche – von einer Band begleitet, in der Schmidt Schlagzeug spielt. Die Mitglieder im Chor wechseln ständig, je nachdem, wer gerade in Afghanistan stationiert ist. Tobias Schmidt ist Bundeswehroffizier, seine Gemeinde im Feldlager Marmal in Masar-i-Scharif besteht nur auf Zeit. Für den Berufssoldaten gehört die Kirche selbstverständlich dazu. Im Auslandseinsatz und zu Hause in Holtland bei Leer.

Hier sitzt der Familienvater am Esstisch seines Einfamilienhauses, ein hübscher Neubau von 2015, innen wie außen überwiegend in weiß gehalten. Es gibt Biskuitrolle zum Kaffee. „Dank Corona haben wir gerade viel Zeit als Familie“, sagt er. Sohn Luca (12) sitzt dabei, sein jüngerer Bruder Leon (6) wuselt im Garten herum, Ehefrau Melanie ist auf dem Sprung zu einem Geburtstag.

Mitte März durfte der 41-Jährige kurzfristig die Heimreise aus Afghanistan antreten, die Monate davor hatte er im Camp verbracht, er war dort verantwortlich für die gesamte Logistik. Auch über die Weihnachtstage und den Jahreswechsel. „Das ist natürlich blöd, klar.“ Zu Weihnachten gab es ein festliches Essen, die große Party aber nicht. Maximal zwei Dosen Bier dürfen die Soldaten bei solchen Anlässen trinken. Viele ziehen sich zurück, um ihre Familien anzurufen. „Manche werden dann sentimental, da kullert auch mal ’ne Träne“, sagt Schmidt. Er selbst war online bei der Bescherung dabei. Wenn die Kinder in Deutschland die Geschenke auspacken, steht in Afghanistan die Nachtruhe bevor, dreieinhalb Stunden beträgt der Zeitunterschied im Winter.

Gerade in solchen Momenten ist die Militärseelsorge gefragt. Die Trennung von zu Hause ist für viele Soldaten ein Thema, nicht jede Beziehung überlebt einen Auslandseinsatz. „Man macht sich vorher wenig Gedanken darüber“, sagt Melanie Schmidt und blickt ihren Ehemann an. „Uns hat das eher zusammengeschweißt.“

Die ständige Konfrontation mit dem Tod wirft Fragen auf, die sich im Alltag nicht so oft stellen. „Man betet, bevor man in den Einsatz rausfährt“, sagt Tobias Schmidt, „zu Hause vergessen das viele wieder.“ Der 41-Jährige nutzt das Angebot des Gottesdienstes gern. „Mir ist diese Zeit für mich wichtig.“ Wenn ihn eine Nachricht von zu Hause belastet, zündet er in der Lagerkirche eine Kerze an. Und von dem Militärseelsorger beim letzten Einsatz ist er regelrecht begeistert: „Ich fand das megatoll, was der Pfarrer da gemacht hat“, sagt der Offizier. Oft hatte er für die Gottesdienstbesucher ein Mitbringsel dabei. Ein laminiertes Vaterunser, ein Fischanhänger, einmal waren es selbstgeschnitzte Engel. „Ich brauche aber vier“, sagte Schmidt zum Pfarrer; er bekam sie, schrieb die Namen seiner Liebsten darauf und schickte sie nach Hause.

Als Jugendlicher war Tobias Schmidt kein regelmäßiger Kirchgänger, dafür trug er schon in die Freundschaftsbücher seiner Klassenkameraden ein, dass er einmal Soldat werden würde. Sein Vater war auch Soldat, bei den Familienrüstzeiten hatte der kleine Tobias ersten Kontakt zur Militärseelsorge. Die Eltern bezeichnet er als die klassischen U-Boot-Christen – zu den hohen Feiertagen tauchen sie auf. Deswegen hatte er lange Hemmungen, nach vorne zum Abendmahl zu gehen. „Das hat mir keiner vorgelebt.“

Für seine eigenen Kinder ist ihm die christliche Erziehung wichtig. Dazu gehören die Wegmarken Taufe und Konfirmation, aber auch, dass man über den Glauben spricht und sich kritisch damit auseinandersetzt. In Konfirmand Luca hat der Vater einen interessierten Gesprächspartner. Während des Auslandseinsatzes gingen beide in ihre jeweilige Kirche zum Sonntagsgottesdienst und tauschten sich hinterher darüber aus. Tobias Schmidt erzählt davon, dass immer, wenn jemand nach Hause flog, das irische Segenslied „Möge die Straße uns zusammenführen“ gesungen wurde. „Das ist voll schön, das Lied“, findet auch Luca. Daheim in Holtland gingen sie gemeinsam zur Kirche. Dann kam Corona. Da in der Kirchengemeinde schon immer die Gottesdienste aufgezeichnet und auf CD an ältere Menschen verteilt wurden, weitete Gemeindepastor Sven Grundmann das Angebot aus. In den Spitzenzeiten bekamen 90 Interessierte den Gottesdienst kostenfrei ins Haus. Auch Tobias Schmidt bestellte eine CD. „Wir wollten am Ball bleiben“, sagt er. Zu Hause versammelt sich dann die ganze Familie. Und manchmal nimmt Luca den Gottesdienst mit auf sein Zimmer.

Für die Schmidts bedeutet Kirche aber noch mehr. Der Kontakt zur Gemeinde fing damit an, dass Melanie Schmidt zur Krabbelgruppe ging, später besuchten die Kinder den kirchlichen Kindergarten. Luca berichtet euphorisch vom Zelten bei den Jungschartagen und anderen „Events über Gott“, wie er es nennt. „Ohne die Kirche gäbe es in Holtland nicht viel“, sagt seine Mutter, die seit ihrem fünften Lebensjahr in dem 2.200-Seelen-Ort lebt. Man kennt sich hier. Die 42-Jährige ist Kursleiterin in dem Fitnessstudio, in dem auch das Pastorenehepaar Grundmann trainiert.

Als Luca mit den Nachbarjungs zum Spielen rausgeht, wird Tobias Schmidt noch einmal ernst. „Natürlich liegt bei uns das Testament im Schrank“, sagt er. Jeder Soldat hat außerdem in seiner Dienststelle ein Notfallblatt hinterlegt, auf dem steht, wer der Familie im Ernstfall die schlechteste aller Nachrichten überbringen soll. „Ich habe Pastor Grundmann gefragt, ob er das machen würde. Er hat sofort zugestimmt.“

Für Tobias Schmidt stand noch nie zur Debatte, der Kirche etwa aus finanziellen Gründen den Rücken zu kehren. „Gute Arbeit und Infrastruktur muss bezahlt werden“, sagt der Logistiker. „Als Soldat bin ich ja direkter Nutznießer.“ So bietet die Militärseelsorge in den Einsatzgebieten der Bundeswehr „Oasen“ an, die zugleich Restaurant, Treffpunkt und Kulturstätte sind. Und einen Teil des Equipments für die Lagerband stellt auch die Kirche. Manche mögen fragen, ob das zum Kernauftrag gehört. „Man muss sich im Einsatz ja mal ablenken“, sagt der Offizier. Viel wichtiger ist ihm aber eine Gewissheit, die er ohne die Kirche nicht hätte: „Da ist jemand, der auf mich aufpasst“.

Lothar Veit

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