Startseite Archiv Tagesthema vom 16. Juni 2020

Dusche und Balkon statt Notunterkunft - eine Jugendherberge als Zuhause auf Zeit

Die vollständige Darstellung von Archivmeldungen befindet sich noch im Aufbau. Schauen Sie in Kürze noch mal vorbei!

Die Corona-Krise ist für wohnungslose Menschen eine besondere Herausforderung. Denn sie haben kein Zuhause, wohin sie sich zurückziehen können. Die Stadt Hannover hat für sie kurzerhand eine ganze Jugendherberge angemietet. 

An seine neue Bleibe in der Jugendherberge Hannover könnte sich Franz Bauer (58) glatt gewöhnen. "Super hier, da hat man ein Einzelzimmer", erzählt er in seinem Mannheimer Dialekt und nippt an einer Cola. Eine Dusche hat er jetzt für sich allein, dazu einen Balkon. "Man kann sich richtig erholen von dem Stress, den man vorher hatte." Denn noch vor wenigen Wochen war für den wohnungslosen Mann alles anders. Vor der Corona-Krise und zu Beginn des Lockdown brachte er die Tage meist draußen in der Kälte zu und drängelte sich nachts mit anderen Obdachlosen in einer Notunterkunft im Norden der Stadt. 

Doch jetzt fühlt Bauer sich richtig gut. Denn die Stadt Hannover hat aus der Not der Corona-Krise eine Tugend gemacht und mit Unterstützung von Land und Region sowie von Diakonie und Caritas für Wohnungslose die komplette Jugendherberge am Ihmeufer angemietet - bis Mitte Juli. Es gehe darum, einen vorübergehenden Rückzugsort für obdachlose Menschen zu schaffen und gleichzeitig die Ausbreitung des Virus auf der Straße einzudämmen, sagt Sozialdezernentin Konstanze Beckedorf. Rund hundert Wohnungslose haben das Angebot angenommen: "Wir freuen uns über den großen Zuspruch zu diesem ungewöhnlichen Projekt." Von der Initiative profitiert auch die Jugendherberge, die in der Krise sonst leergestanden hätte.

Mit der Idee folgt die Stadt einem Vorschlag der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe, die im Frühjahr ein Zehn-Punkte-Programm für die rund 678.000 Wohnungslosen in Deutschland vorgelegt hat. Die Unterbringung in dicht belegten Notunterkünften sei eine der großen Schwachstellen in der Corona-Krise, sagt Geschäftsführerin Werena Rosenke: "Alles, was im März angeordnet worden ist, funktioniert unter solchen Bedingungen nicht." 

Abstandhalten, Hygieneregeln: Wie soll das gehen, wenn die Wohnungslosen sich tagsüber auf der Straße kaum die Hände waschen können und nachts in voll belegten Sechsbettzimmern schlafen? Deshalb müsse zusätzlicher Raum angemietet werden, wo jeder ein Stück Privatsphäre hat. Hotels, Pensionen, Ferienwohnungen. Oder eben eine Jugendherberge. Solche Projekte gibt es auch bereits in Berlin, Hamburg und einigen kleineren Städten.

Franz Bauer hat sich über einen Kontaktladen der Diakonie um einen der begehrten Plätze in der Jugendherberge beworben. Ein Arzt bescheinigte ihm, dass er nicht unter ansteckenden Krankheiten leidet. Vor zwei Monaten konnte er dann sein Zimmer beziehen. Eigentlich ist es ein Vierbettzimmer, doch drei Betten bleiben leer. Morgens so gegen acht Uhr holt er sich seine Frühstückstüte mit den Brötchen ab, gegen 17 Uhr gibt es ein warmes Abendbrot. Für Bauer ist wichtig, dass er sich in der Herberge auch tagsüber aufhalten kann: "Man kann den ganzen Tag hierbleiben, auch wenn schlechtes Wetter ist."

Billard, Tischfußball, Skat - so sehen nun viele seiner Tage aus. "Wenn ich ein paar Leute dafür finde." Manchmal fährt er auch in die Stadt. Doch spätestens um 22 Uhr muss er, wie alle hier, zurück sein. Denn im Haus herrschen klare Regeln. In den Zimmern darf nicht geraucht werden. Alkohol und Drogen sind absolut tabu. Einige Bewohner mussten wegen Verstößen das Haus schon wieder verlassen. Franz Bauer hat für solche Leute kein Verständnis: "Die sind selbst schuld", erzählt er in einem benachbarten Café und gestikuliert lebhaft mit den Händen. "Wenn mir jemand Hilfe bietet, dann muss ich mich doch auch daran halten, was die sagen."

Der gebürtige Mannheimer mit einem Faible für Fußball hat schon viel erlebt. Einen schweren Arbeitsunfall, der ihn aus der Bahn warf. Eine Privatinsolvenz. Und zuletzt die Trennung von seiner alkoholkranken Freundin. Anfang des Jahres kam er aus Düsseldorf nach Hannover, um ein neues Leben anzufangen. Natürlich ohne Wohnung. Einige Winternächte hat er dick eingemummelt auf einer Bank im Park verbracht.

Mit Hilfe von Sozialarbeitern will er jetzt wieder Fuß fassen und Wohnraum für die Zeit nach Juli finden. Diakonie und Caritas bieten in der Herberge viele Hilfen an: Suchtberatung, eine Kleiderkammer, medizinische Versorgung. Rund um die Uhr gibt es Ansprechpartner, rund 25 Sozialarbeiter und etwa 35 Ehrenamtliche wechseln sich dafür ab. Für Hannovers Diakoniepastor Rainer Müller-Brandes hat das Projekt bundesweit Modellcharakter. "Es kommt zur richtigen Zeit am richtigen Ort." 

Werena Rosenke von der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe plädiert dafür, dass die Idee angemieteter Quartiere mit Privatsphäre auch nach der Corona-Krise weiter Kreise zieht. Damit obdachlose Menschen vielleicht auch einmal in Ruhe eine Bewerbung schreiben oder einen Schulabschluss nachholen können. "Warum soll das nicht auch in anderen Zeiten möglich sein?"

Michael Grau (epd)