Startseite Archiv Tagesthema vom 25. Februar 2020

„Das konnte sich kaum jemand vorstellen“

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Herr Himstedt, Sie leiten ein Kirchenamt. Das klingt nicht besonders sexy.
Karl-Heinz Himstedt: Sie haben recht - mit einem Amt verbindet man Amtsschimmel, Behörde, manchmal gar Stillstand. Klar, wir heißen zwar Kirchenamt. Aber wir sehen uns selbst als Dienstleister: Kirchengemeinden beschließen etwas, wir setzen es um oder helfen ihnen dabei, es umzusetzen. Von ‚oben‘ nach ‚unten‘ regieren, das gibt es hier nicht. Wir schreiben nur ganz selten Bescheide, wir arbeiten den Kirchengemeinden aktiv zu und unterstützen sie. Jede Kirchengemeinde hat bei uns einen festen Sachbearbeiter, der sie in allen Dingen berät und begleitet.

Klären Sie mich auf - was sind denn überhaupt Ihre konkreten Aufgaben als Kirchenamt?
Karl-Heinz Himstedt: Das sind ganz viele. Hier bei uns im Haus werden etwa die Finanzen der Gemeinden in den Kirchenkreisen Harzer Land und Leine-Solling sowie der Kirchenkreise und aller Einrichtungen organisiert. Wir sind so etwas wie die Bank der Kirchengemeinden, alle Geldbewegungen laufen über uns. Das sind pro Jahr rund 90 Millionen Euro, eine große Verantwortung. Wir helfen dazu, den Haushaltsplan und den Jahresabschluss zu erstellen. Und wir fungieren als Personalabteilung der Gemeinden: 1.600 Mitarbeiter in unseren beiden Kirchenkreisen werden von uns betreut. Vom Eichsfeld bis zum Oberharz, von Bad Sachsa bis kurz hinter Einbeck - unser Einzugsbereich ist riesig.

Und Sie, Frau Wendt, kennen vermutlich jede Kapelle und jede Kirche in diesem riesigen Gebiet.
Petra Wendt: Das stimmt tatsächlich. Wir kümmern uns als Bau- und Liegenschaftenabteilung um sämtliche Gebäude der Kirchengemeinden und der Kirchenkreise, Friedhöfe und Grundstücke. Da geht es um die Verwaltung von 511 Gebäuden, viele davon denkmalgeschützt. In Südniedersachsen gibt es beinahe in jedem Dorf eine Kirche, 134 sind es insgesamt in unserem Bereich. Deren bauliche Betreuung ist sehr aufwendig, deshalb arbeiten neben den Architekten des landeskirchlichen Amtes für Bau- und Kunstpflege für Sakralgebäude bei uns eigene Architekten für die baufachliche Betreuung der Profangebäude, Pfarrhäuser, Gemeindehäuser, Kindertagesstätten, Friedhofskapellen und sonstigen Nebengebäude. Es ist für ein Kirchenamt sehr ungewöhnlich, aber auch sehr hilfreich, diese Experten im eigenen Haus zu haben.

Nun hat auch das Kirchenamt Northeim 2019 mit all’ seinen 60 Mitarbeiter*innen an der „Zeit für Freiräume“ teilgenommen. War das von vornherein klar?
Karl-Heinz Himstedt: Sagen wir es einmal so: Als bekanntgegeben wurde, dass die Landeskirche ein „Jahr der Freiräume“ ausruft, gab es viele Fragen bei unseren Mitarbeiter*innen: Wie kann das konkret aussehen? Manche haben auch gescherzt: Soll das etwa ein Jahr ohne Telefon werden? Sie müssen wissen, dass wir uns hier wie ein Brummkreisel drehen, es gibt für unsere Mitarbeiter einfach viel zu tun. Zu akzeptieren, dass der Stapel auf dem Schreibtisch an einem Tag nicht mehr geleert werden kann, ist hart. Denn eigentlich möchte man es doch gern allen recht machen. Unter diesen Umständen als Verwaltung Freiräume finden? Das konnte sich kaum jemand vorstellen.


Wie ist es Ihnen dennoch gelungen?
Karl-Heinz Himstedt: Wir haben anstelle des einmal jährlichen Fortbildungstages, etwa zu Erster Hilfe oder Brandschutz, einen Tag geplant, von dem die Mitarbeiter wirklich etwas für sich persönlich mitnehmen können. 2019 gab es mehrere Seminarangebote, jede*r konnte an dreien teilnehmen. Der angebotene Yogakurs etwa hat vielen gut gefallen. Und das Seminar zum Umgang mit schwierigen Situationen war ebenfalls nach Meinung vieler Kolleg*innen sehr hilfreich: Dort konnte man lernen, wie man gelassen, souverän und dennoch höflich reagieren kann, wenn man am Telefon den ganzen Unmut eines Anrufers abbekommt.

Klingt nach einem sehr lebensnahen Beispiel. Haben Sie jenseits der Gesprächsführung ein Rezept, damit Verwaltung und Verwaltete gut miteinander auskommen?
Petra Wendt: Ich denke schon. Neuanfänger im Pfarrberuf laden wir immer hier in das Kirchenamt ein und zeigen ihnen, was wir machen. Wir sagen ihnen dann auch unsere wichtigste Regel: Rufen Sie einfach kurz an, wenn Sie etwas planen, das Sie noch nie gemacht haben, egal ob Beschlussvorlage oder Haushaltsplan. Und wir helfen gern, beantworten auch wiederholt die gleiche Frage. Uns ist bewusst, dass Verwaltung im Theologiestudium nicht unterrichtet wird und für Neueinsteiger manchmal recht kompliziert wirkt. Das alles führt dann in den meisten Fällen zu einem dauerhaft guten Miteinander.

Frau Wendt, gibt es etwas, das aus Ihrer Sicht über den „Freiräume“-Fortbildungstag hinaus gewirkt hat?
Petra Wendt: Eines der Angebote war ein Augentraining. Diese Idee hat viele gepackt - auch mich. Wir alle hier sitzen eben viel vor dem Computer, da hilft es etwa, ab und zu mal ein Objekt in anderer Entfernung zu fokussieren. Auch einige Zeit danach kam noch wöchentlich eine Übung per E-Mail, um die entsprechenden Muskeln zu trainieren. Ich mache das selbst bis heute, etwa wenn ich mit dem Auto an einer roten Ampel stehe. Der Workshop hat also durchaus langfristig gewirkt.

Die Suche nach „Freiräumen“ ist also nicht vorbei?
Karl-Heinz Himstedt: Natürlich nicht. Veränderung braucht immer Zeit. Und ich merke: Die Stimmung ist seitdem besser, da hat sich etwas bewegt. Die Absicht war es, den Leuten, die sich täglich bestmöglich kümmern, etwas Gutes zu tun. Und diese Botschaft ist definitiv angekommen. Übrigens wurden nicht nur hier im Amt, sondern auch auf der Ebene des Kirchenkreises kirchlichen Mitarbeitern Freiräume ermöglicht: Zehn Euro pro Person und Monat - also 120 Euro pro Jahr - gab es als Zuschuss für die aktive Nutzung eines Sportangebots oder eines Workshops. Auch dieses Angebot wurde rege genutzt.

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Karl-Heinz Himstedt ist in Goslar aufgewachsen und leitet das Kirchenamt Northeim seit Januar 2019. Der 56-Jährige Verwaltungsfachmann hat seinen Beruf bei der Bundeswehr gelernt und später an der Hochschule in Hildesheim gehobenen Verwaltungsdienst studiert. Auch seine Kollegin Petra Wendt (54), die Leiterin der Bau- und Liegenschaftenabteilung, ist gelernte Verwaltungsangestellte und hat ebenfalls in Hildesheim studiert.

Zeit für Freiräume

Das Jahr 2019 stand in der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers unter der Überschrift "Zeit für Freiräume": ein Jahr für Aufbrüche und Fragen, für Unterbrechungen, Besinnung und vielleicht auch für Neubeginn. Die Welt verändert sich rasant, was bedeutet das für uns persönlich und für die kirchliche Arbeit? Was wollen wir tun? Was wollen wir lassen oder verändern? Was gibt uns Kraft, und wo finden wir Hoffnung? Wir nehmen uns Zeit und denken auch nach dem Jahresende über "Freiräume" nach. Um des Menschen willen.

Wie Freiräume fruchten

Martin Miehlke hat als Berufsanfänger seine ganz eigenen Wege gefunden, um sich als Pastor in einer Ortsgemeinde Freiräume zu bewahren.

Immensen räumt auf

In der Immenser Kirchengemeinde hat man den Begriff "Freiräume" wörtlich genommen - und kurzerhand die Kirchenbänke rausgeräumt.