Startseite Archiv Tagesthema vom 28. Januar 2020

Anders Amen auf YouTube: "Der Erfolg hat uns umgehauen"

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Ellen und Steffi Radtke sind Pastorinnen und zeigen seit einer Woche ihr buntes Dorfleben in Eime bei Hildesheim auf YouTube. Queeres Leben in der Kirche und auf dem Land - das passt zusammen, sagen sie.

Der Kleinwagen geht in die Kurve wie auf einem Rennparcours. Steffi Radtke hält für einen kurzen Moment die Luft an. „So ist das auf dem Land eben“, sagt die 34-Jährige schließlich grinsend auf dem Beifahrersitz und hält die Szene weiter mit der Selfiekamera fest. Steffi und ihre Frau Ellen haben es eilig an diesem Sonntagmorgen - sie wollen zum Gottesdienst. Dass sie sich derart beeilen müssen, liegt auch an ihrem entspannten Frühstück, festgehalten mit der gleichen Kamera. Sie begleitet die beiden Pastorinnen und ermöglicht erfrischende und erstaunliche Einblicke.

Seit ein paar Tagen kann man im Netz sehen, wie ein Sonntagmorgen bei Familie Radtke im beschaulichen Eime bei Hildesheim abläuft. Im YouTube-Kanal „Anders Amen“ der beiden Theologinnen werden immer mittwochs Alltagsgeschichten veröffentlicht. Dazu Bartalks mit und ohne Gäste, zu „aktuellen Themen und Fragen, die euch und uns beschäftigen, rund um das Leben“. Nicht einmal eine Woche ist es her, dass der erste Clip der beiden veröffentlicht wurde - konzipiert und realisiert vom Evangelischen Kirchenfunk Niedersachsen (ekn), der auch für die Landeskirche Hannovers viele Videos produziert. Und die Nutzerzahlen gehen durch die Decke: Mehr als 7.000 Klicks für die wilde Fahrt zum Gottesdienst am „Spießersonntag“, knapp 4.500 Views beim Bartalk „Warum machen lesbische Pastorinnen YouTube?“.

Inzwischen (Stand: 28. Januar) wollen mehr als 1.280 Abonnent*innen des YouTube-Kanals wissen, wie es weitergeht. Die Kommentarspalten sind voll des Lobs, das Interesse geht weit über die Grenzen des Kirchenkreises Hildesheimer Land-Alfeld hinaus. „Es kommt ganz viel Dankbarkeit“, sagt Ellen Radtke. „Wir machen das vor allem für queere Menschen, die kein gerades Vaterunser beten können. Und da kommen tatsächlich sehr viele sehr positive Rückmeldungen.“ Sie habe vorher nicht damit gerechnet, dass so viele Leute zuschauen, sagt die 35-Jährige: „Zwischendurch habe ich beim Lesen der Kommentare einfach geweint vor Freude.“

Der unverblümte Kommunikationsstil, das liebevolle gegenseitige Sticheln und die zugleich absolut ernsthafte Gesprächskultur über die Welt der Kirche, das Dorfleben und alles mögliche andere - das alles kommt richtig gut an. Und macht bei allen Lust auf mehr - nicht nur bei den Nutzern. „Wir haben großen Spaß“, sagt Ellen Radtke, die eine halbe Stelle als Projektleiterin im Haus kirchlicher Dienst hat und ansonsten als Springerin im Kirchenkreis unter anderem Menschen beerdigt und traut. „Wir machen Anders Amen gern ehrenamtlich, in unserer Freizeit.“ Das Projekt sei nicht in ihrem Stellenanteil enthalten - auch nicht in dem von Steffi Radtke, die eine volle Stelle als Gemeindepastorin in Eime innehat. 

Der Erfolg des Formats hat die beiden Pastorinnen „umgehauen“, sagt Ellen Radtke: „Unser analoges Telefon hat zwei Tage nicht mehr stillgestanden.“. Vor ein paar Tagen habe sie einen Workshop auf der „Grünen Woche“ in Berlin gegeben, das Smartphone habe währenddessen permanent vibriert, weil neue Nachrichten und Anfragen kamen. „Zu Hause habe ich das erste Mal seit ganz langer Zeit zwei Stunden lang das Telefon zur Seite gelegt, um mal zur Ruhe zu kommen.“

Es melden sich viele Menschen, die sich in ihrer queeren Identität nicht so selbstbewusst in die Öffentlichkeit wagen wie die beiden YouTube- und Instagram-Frontfrauen. Auch der Instagram-Account der beiden sei „explodiert“, sagt Ellen Radtke - sie sitze teilweise stundenlang auf dem Sofa und beantworte Fragen. Kontaktpflege liegt Ellen Radtke am Herzen: „Social Media läuft nicht als Einbahnstraße. Wenn Du keine Kommentare beantwortest, verschwinden die Leute wieder. Und wir sind so froh, dass vor allem diejenigen kommen, die sich noch geoutet haben. Am Ende machen wir das vor allem, damit sie uns sehen und wissen, dass es uns gibt - und dass auch die Landeskirche ein solches Projekt unterstützt."

In den kommenden zehn Tagen hätten die beiden eigentlich Urlaub - nun nutzen sie die ersten vier Tage davon für Pressearbeit. Jeden Tag zwei Termine mit ganz unterschiedlichen Formaten - private Fernseh- und Radiosender, Online- und Printmedien. Alle sind gespannt, mehr zu hören und zu sehen von den beiden Frauen aus dem Flecken Eime bei Hildesheim - da darf der Fahrstil gern auch mal ein bisschen rasanter sein.

Alexander Nortrup

"Mehr Glitzer in den Kirchtürmen"

Ellen und Steffi Radtke sind schon seit einigen Jahren auf Instagram aktiv - nun wollen sie auch als YouTuberinnen zeigen, wie bunt und vielfältig die evangelische Kirche sei, sagt Ellen Radtke. „Und dass sie auch Menschen wie uns eine Heimat bietet.“ Zielgruppe sind queere, junge Menschen, die gerade vor den vielen Möglichkeiten stehen, die das Leben ihnen bietet. Steffi Radtke: „Wir wollen eine Online-Gemeinde für alle sein, denn die evangelische Kirche braucht definitiv mehr Glitzer in ihren Türmen.“