Petra Kretschmer (63) ist Pastorin und Pastoralpsychologin (DGfP); Supervisorin und Lehrsupervisorin (DGfP); Onlineberaterin (DGOB). Sie leitet die Telefonseelsorge in Wolfsburg.
Frau Kretschmer, die Telefonseelsorge wird von den christlichen Kirchen getragen, arbeitet aber weitgehend im Verborgenen. Wer ruft bei Ihnen an?
Das sind natürlich oftmals Menschen in Lebenskrisen. Viele von ihnen haben ganz konkrete Fragen und erhoffen sich Antworten. An Weihnachten hat etwa ein Mädchen beim Kinder- und Jugendtelefon angerufen. Die Eltern hatten sich kürzlich getrennt, das Kind aber nur einen Weihnachtsstern in der Schule gebastelt. Mutter und Vater hatten beide einen Baum - nun wusste das Mädchen nicht, bei wem es seinen Stern aufhängen soll und steckte in einem echten Loyalitätskonflikt. Wir haben dann im Gespräch gemeinsam den Plan entwickelt, noch einen kleinen Stern zu basteln, um jeweils einen zu beiden Elternteilen mitzunehmen. So ist unsere Arbeit gedacht: Die Ratsuchenden finden im Gespräch selbst Lösungen, die zu ihnen passen.
Melden sich an Weihnachten und zum Jahresbeginn besonders viele Menschen?
Wir sind ganzjährig Tag und Nacht gefragt. Unsere ehrenamtlichen Mitarbeitenden sind in Schichten à vier Stunden im Einsatz. Grundsätzlich hat aber an Weihnachten und zum neuen Jahr das Thema Einsamkeit eine andere Relevanz. Beziehungskrisen etwa sind dann besonders schwer zu ertragen. Nicht selten feiern Menschen noch zusammen mit ihrer Familie Weihnachten und verkünden dann: ‚Ab 1.1. ziehe ich aus. Ich habe dann eine eigene Wohnung‘. In einer Zeit, in der viele Sehnsucht nach heilem Familienleben haben, haut das natürlich besonders rein.
Ist die Vorstellung falsch, dass sich vor allem Menschen in höchster Verzweiflung, mit konkreten Suizidabsichten, an die Telefonseelsorge wenden?
Ursprünglich ist die Telefonseelsorge in der Tat als Rettungsanker für Lebensmüde gegründet worden. Heute kommt das Thema Suizid bei uns am Telefon statistisch etwa alle ein bis zwei Wochen vor. Nicht wenige Ratsuchende rufen auch regelmäßiger an und suchen einfach jemanden zum Reden. Im Online-Chat und in der Mail-Beratung sind Andeutungen von Todessehnsucht oder deutliche Suizidabsichten sehr viel häufiger. Überhaupt sind online oft deutlich krisenhaftere Themen dran. Viele Ratsuchende wählen lieber die Mail- oder Chatseelsorge als das Telefon, weil sie auch Kontakt- und Beziehungsängste entwickelt haben. Manche sind traumatisiert oder leiden unter Beziehungsstörungen, denen ist der Kontakt über das Telefon oft zu nah.