Startseite Archiv Tagesthema vom 23. Dezember 2019

"Weihnachten sind viele Emotionen im Spiel"

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Die Musik ist laut, brüllend laut. Und gar nicht weihnachtlich. Gitarre, Bass und Drums machen ordentlich Betrieb, blaue Lichteffekte erhellen den gewaltigen, langgezogenen Raum im Hannover Congress Centrum (HCC). Für den älteren Herrn mit Hut ist die Szenerie ganz offensichtlich ein vorgezogenes Weihnachtsgeschenk: Mit der rechten Hand klopft er rhythmisch auf seine abgewetzte Lederhose. Sein Nachbar sitzt im Rollstuhl, der rechte Unterschenkel ist amputiert. Auch er lauscht ergriffen, wippt lautlos mit dem Kopf, öffnet nur ab und an die Augen. Als der Song endet, klatscht er begeistert mit den Händen über dem Kopf Beifall. 

Ein Konzert als zahlende Gäste liegt für die beiden in weiter Ferne. Aber so geht es vielen auf der „Weihnachtsfeier für Bedürftige“. Und genau deshalb spielt die Band „Fury in the Slaughterhouse“ Hits wie „Won’t forget these days“ ohne Gage - einige Bandmitglieder engagieren sich seit Jahren für die Weihnachtsfeier, genau wie viele hundert Ehrenamtliche. Sie bieten mit der Hilfe von vielen Sponsoren für einige Stunden Musik und ein leckeres Festessen. Und sie erfüllen andere, ganz alltägliche Bedürfnisse: Friseurinnen und Friseure schneiden kostenlos Haare. In einer riesigen Kleiderkammer sind auf Tischen bergeweise sortierte Klamotten zu finden. Ein lokaler Anbieter von Obst und Gemüse verteilt kistenweise kostenlos Essen. Und an den Tischen im Saal, wo die Musiker viele glückliche Zuhörer finden, laufen Handpuppenspieler umher und kümmern sich um jene, denen Tränen der Begeisterung und Rührung die Wangen herunterlaufen.

Weihnachten - ein Fest, das kaum einen kalt lässt. Und das ganz unterschiedlich sein kann. Je nach Lebenslage hat es eine stille, meditative Note. Oder ist von Trubel und Hektik geprägt. Für manche ist die Suche nach den passenden Geschenken eine aufregende Angelegenheit. Und wieder andere sind froh, wenn sie zumindest etwas Warmes zu essen und ein Dach über dem Kopf haben. Für viele Menschen, die sich täglich um solche Grundbedürfnisse Sorgen machen, gibt es an den Festtagen Anlaufstellen. Eine davon ist das „Dach über’m Kopf“ („DüK“), ein Tagestreffpunkt der Diakonie in Hannover. 

An einem klaren Wintermorgen ist die Tür der Einrichtung an der Berliner Allee, mitten im Stadtzentrum von Hannover, schon von einem Dutzend Menschen umlagert. Frühstücken, duschen, Wäsche waschen und das Ohr von jemandem, der zuhört – dafür kommen täglich ab 8.30 Uhr zwischen 80 und 120 Menschen zum „DüK“. In den Aufenthaltsräumen können sich Wohnungslose aufwärmen, für ein paar Cent gibt es Cornflakes, Kaffee und Tee. Die dampfenden Tassen wandern in oft rauen Händen vom Tresen an die Holztische, die ein wenig nach Schullandheim aussehen. Manche Besucher sitzen in Gruppen, manche für sich. Im Fernseher in einer Ecke laufen die Simpsons, einige Männer in Jacken sitzen mehr oder weniger aufmerksam davor. Gebrochenes Deutsch hallt in den schlichten Räumen, auch Englisch und manche andere Sprachen sind zu hören.

Maria hat sich einen der beiden Computer gesichert und schaut auf Youtube „Ein Herz und eine Seele“. „Solche Klassiker gehören für mich unbedingt zu Weihnachten“, sagt die 28-Jährige und lächelt glücklich. „Ich vermisse nur den Schnee – der sorgt erst für die richtige Winterstimmung.“ Sie freut sich auf Weihnachten, auch wenn ein „traditionelles“ Fest mit Tannenbaum und Kirchgang bei ihr schon lange her ist, genauer: seit ihre Großeltern starben. Danach wurde vieles anders. „Dieses Jahr gehe ich wahrscheinlich mit einigen Freunden essen. Ansonsten habe ich keinen großen Wunsch – nur, dass ich nächstes Jahr wieder in mein Haus einziehen kann. Dazu läuft noch ein Gerichtsprozess.“

Für Maria ist das „DüK“ ein Ort, an dem sie den Tag nicht allein draußen verbringt. Andere Besucher haben Fragen und Sorgen, um die sich bis zu vier Sozialarbeiter*innen kümmern: Wo ist die Liste für die Waschmaschine? Wie ist das Formular von der Krankenkasse auszufüllen? Wie schreibt man eine Bewerbung? Isabelle Rank huscht beständig durch das Haus und beantwortet genau solche Fragen. Sie kommt auch an diesem Morgen kaum dazu, ihr Müsli zu essen. „Für mich ist Weihnachten ein gewisser Spagat“, erklärt sie zwischen zwei Löffeln. „Einerseits sind da mein Glaube, mein Beruf und der persönliche Wunsch, helfen zu wollen. Aber zu Hause warten auch mein Sohn und die Familie - die gehören natürlich genauso dazu.“ Für diese Festtage hat Rank sich freigenommen – eine Ausnahme in den letzten Jahren. Ihre Kollegen öffnen das DüK auch an Heiligabend, von 9 bis 12 Uhr. 

An vielen Orten in der Landeskirche gibt es Kirchengemeinden, diakonische und andere soziale Einrichtungen, die wie die Hannoveraner Bedürftigen helfen wollen. Wie schwierig das manchmal sein kann, weiß Sozialarbeiterin Viktoria Kipp, die beim Kontaktladen „Mecki“ der Diakonie gleich hinter dem Hauptbahnhof arbeitet. „Da sind viele Emotionen im Spiel“, sagt die 25-Jährige. „Viele Wohnungslose haben jahrelang Weihnachten unter dem Baum gefeiert. Und wissen dann an Heiligabend, dass viele Leute jetzt mit ihren Liebsten im Warmen sitzen. Da kann man sich schon sehr einsam fühlen.“ Gerade der Unterschied zwischen dem hektischen Herumgerenne und Shopping in der Weihnachtszeit und den leeren Straßen an den Feiertagen sei enorm: „In der Adventszeit ist die Stadt sehr wuselig, für viele Wohnungslose ist das ja ihr Alltag, weil sie sich vor allem in der City aufhalten. Die können sich nicht zurückziehen und werden so auch von der Hektik um sie herum geprägt.“ 

Essen und trinken, ein Schlafplatz, medizinische Versorgung und ein nettes Wort - es ist auch an den Festtagen nicht viel, das Menschen in Not brauchen. Kipp und ihre Kolleg*innen aus der Diakonie sind umso bemühter, die Tage vor und nach Weihnachten da zu sein: „Unsere Einrichtungen haben sich die Öffnungszeiten an den Feiertagen aufgeteilt, es ist immer jemand da. Wir haben hier auch einen Baum. Aber wir vermeiden es, mit Liedern und Deko zu viele Emotionen zu schüren. Am Wichtigsten ist es, dass wir einfach präsent sind. Und zwar das ganze Jahr, nicht nur an Weihnachten.“

Christine Warnecke und Alexander Nortrup

„Am Schlimmsten ist die Hilflosigkeit“

Werner Buchna war lange kokain- und heroinabhängig und weiß, wie hart das Leben auf der Straße ist. Er fand wieder eine Wohnung und verkaufte elf Jahre lang das Magazin „Asphalt“. Inzwischen arbeitet Buchna für den Fußball-Regionalligisten Hannoverscher SC - und hat immer ein offenes Ohr für Obdachlose und Bedürftige.

Herr Buchna, es wird kalt in Deutschland. Was bedeutet das für Wohnungslose in unseren Städten?
Die suchen sich jetzt vor allem einen warmen Platz, an dem sie übernachten können. In Hannover geht das etwa in der Passerelle, unter dem Kröpcke in der Innenstadt. Die Stadt hat Obdachlosen inzwischen wieder erlaubt, dort zu übernachten. Das ist gut - denn um die wenigen warmen Plätze startet mit Beginn der Kälteperiode eine Art Jagd, und zwar durchaus mit harten Bandagen. Wohnheime sind dabei leider keine große Entlastung, sie sind hoffnungslos überfüllt.

Sie haben selbst auf der Straße gelebt. Was war für Sie persönlich damals das Härteste in der Kälteperiode?
Am schlimmsten ist die Hilflosigkeit. Man bekommt von den meisten Passanten in der Stadt keine Hilfe. Die gucken mal zu Dir und dann wieder weg. In der Herbst- und Winterzeit ist das besonders schlimm, wenn man besonders dringend Unterstützung braucht. Zum Glück gibt es Angebote wie den Kontaktladen "Mecki" vom Diakonischen Werk Hannover und andere Orte, an denen man etwas Warmes zu essen bekommt, jemand zuhört und die Not lindert. Seit neun Jahren gibt es zudem eine Weihnachtsfeier im HCC für Obdachlose und Bedürftige, zu der jedes Jahr hunderte Menschen kommen. Bei der Organisation arbeite ich intensiv mit - und weiß, dass es lohnt.  

Was können Menschen tun, die Obdachlosen in der Kälte selbst helfen wollen?
Auf jeden Fall nicht gleich Geld geben. Am besten erst einmal mit den Leuten in Kontakt treten. Auf Augenhöhe fragen, warum derjenige oder diejenige auf der Straße lebt. Nicht vorbeigehen und denken: Schon wieder ein Penner. Das sind Menschen mit ganz normalen Biografien, vom Arzt bis zur Putzfrau, die meist irgendeinen Schicksalsschlag erlitten haben. Das Wichtigste ist, mit ihnen zu reden. Ich gebe zum Beispiel kein Geld, ich bezahle lieber einen Kaffee oder ein Frühstück. Gemeinsame Zeit und gezielte Hilfe sind so viel mehr wert als ein paar Euro auf die Hand.