Startseite Archiv Tagesthema vom 09. November 2019

Wie Ost und West wieder eins wurden

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Es war ein Sonntag, als auch in Bleckede endlich die Grenze geöffnet wurde. Von jenem 26. November 1989 erzählt Erika Tipke heute noch mit Begeisterung: „Unser Sohn stürmte in die Kirche und rief: ,Ihr könnt hier nicht sitzen, das ist so wichtig. Die erste Fähre fährt gleich.’“ 

In Berlin und an vielen andern Stellen war die innerdeutsche Grenze schon seit dem 9. November - also gut 14 Tage - offen. Aber hier, an der Elbe zwischen Bleckede (West) und Neu Bleckede (Ost), war der Eiserne Vorhang noch dicht.

Noch am Vortag hatten die DDR-Grenzer sich geweigert, das Metalltor auf der Ostseite des Flusses zu öffnen. Sie hatten die Fähre aus dem Westen in der Flussmitte mit Lautsprecherdurchsagen zurückgewiesen. Doch am Sonntag klappte es. Auch Tipkes stürmten zum Fluss. „Das war das einzige Mal, dass wir ohne Segen aus der Kirche gegangen sind.“

Erika Tipke und ihr 2010 verstorbener Mann Ernst waren 1976 nach Bleckede gezogen. „Wir haben davon gehört, dass früher mal eine Fähre gefahren ist“, erzählt Erika Tipke. Dass irgendwann wieder eine fahren würde, hätte sie nicht erwartet. „Die Hoffnung hatten wir schon, aber wir haben nicht daran geglaubt, dass es passiert. Das war alles so fest installiert.“ 

Tipkes hatten dennoch schon vor der Grenzöffnung feste Kontakte zur anderen Elbseite. Ernst Tipke war Leiter der Heimvolkshochschule im Bleckeder Schloss. Seine Aufgabe unter anderem: Kursteilnehmern das Leben in der DDR vermitteln. Dazu gehörten auch Fahrten über die Elbe nach Mecklenburg-Vorpommern. „Das Tagesprogramm war von der DDR genau vorgegeben“, erzählt Erika Tipke. Einmal seien in einem Restaurant sogar andere, einheimisch Gäste vor die Tür gesetzt worden, damit sie nicht mit den West-Besuchern in Kontakt konnten kommen.

Zweimal im Jahr fuhren Tipkes auch auf Besuch in die Kirchengemeinden im Amt Neuhaus – mit großen Umwegen über die Grenzübergänge. Um Politik sei es selten gegangen. „Wir haben über Glaubensfragen gesprochen. Wie man Nachbarn besucht, das war normal. Aber es war eben die Elbe dazwischen.“ Wenn die 75-Jährige von der Zeit vor der Wiedervereinigung erzählt, schwingt Hochachtung mit. „Wir waren erstaunt, wie gläubig sie Menschen sind, wie sie am Evangelium und am Glauben festgehalten haben.  Wir hatten gedacht, sie würden vielleicht mehr klagen, aber sie wussten sich von Gott getragen, das war toll.“ Die Kinder eines Pastors hätten zum Beispiel ohne Verbitterung akzeptiert, dass ihnen das Studium nicht gestattet wurde. „Wir haben das bewundert.“ Tipke beschreibt die Besuche in den Nachbargemeinden als Fahrten in „Oasen der Ruhe“. Die Frage, ob inoffizielle Mitarbeiter der Stasi mit an den Tischen gesessen hätten, habe sie erst nach der Wende beschäftigt.

Bleckede, beziehungsweise seit 2017 der große Kirchenkreis Lüneburg, sei über die Elbe hinweg ein Kirchenkreis geworden, sagt Tipke. Auch 30 Jahre nach der Grenzöffnung wird in Bleckede übrigens eine Tradition gepflegt, die in der Kirche in der DDR entstanden ist: „Wir haben das Friedensgebet übernommen und haben es immer noch.“ Und wenn Erika Tipke sonntags in der Bleckeder Kirche sitzt, dann hat sie den 26. November 1989 nicht nur im Gedächtnis, sondern auch wieder vor Augen. Ein Fenster von Hans-Georg Losert (Halberstadt) zeigt ein Boot voller Menschen, das am Flussufer erwartet wird: „Mein Mann war damals im Kirchenvorstand und hat mit dafür gesorgt, dass dieses bleibende Ereignis der Grenzöffnung der Nachwelt auch in unserer Kirche erhalten bleibt.“

Dirk Altwig

Grenzort Amt Neuhaus

Amt Neuhaus, das ist ein kleines Stück Landeskirche Hannovers rechts der Elbe. Nach Kriegsende 1945 wurde es zu Mecklenburg und der späteren DDR geschlagen, obwohl es seit Jahrhunderten hannoversches Gebiet ist. Seit 1992 gehört das Amt wieder zur Landeskirche, seit 1993 wieder zu Niedersachsen. 

30 Jahre nach dem Mauerfall sei das Amt Neuhaus nicht mehr oder weniger christlich als der Rest der Landeskirche Hannovers, sagt Superintendent Christian Cordes. Fast jeder zweite Bewohner ist Mitglied der evangelischen Kirche.

Am meisten fehlt eine Brücke

Idyllisch sind die Dörfer an der Elbe, aber so, wie die Wirtschaft unter der fehlenden Brücke über den Fluss leidet, wird auch die Arbeit der Kirchengemeinden erschwert, sagt Superintendent Cordes. Die Entfernungen in dem dünn besiedelten Gebiet sind enorm: Auf 280 Quadratkilometern gibt es drei Gemeinden mit zehn Kirchen und zusammen noch knapp 2.000 Mitgliedern - das alles betreut von einer planmäßigen Pfarrstelle. Eine weitere halbe Stelle finanziert die Landeskirche. „Dafür sind wir sehr dankbar“, sagt Cordes. „Sonst wäre das hier nicht zu schaffen.“

Wenn die Fähre wegen Eis oder Niedrigwasser nicht fahren könne, könne ein Weg bis zu zwei Stunden dauern. Und auch mit Fähre sind die Fahrtzeiten im Amt enorm. Deshalb gibt es „Gottesdienste on demand“. Cordes: „Die Leute stimmen sich rechtzeitig ab, wann sie Zeit haben, dann kommt eine Pastorin oder ein Pastor. Und das kann dann auch am Freitagabend sein.“