Startseite Archiv Tagesthema vom 05. November 2019

Freundschaft - über alle Grenzen hinweg

Die vollständige Darstellung von Archivmeldungen befindet sich noch im Aufbau. Schauen Sie in Kürze noch mal vorbei!

Die Mauer war noch nicht gebaut, als Hannovers und Sachsens Landeskirchen Ende der 40er, Anfang der 50er Jahre Gemeinden aus den Messestädten Hannover und Leipzig ermunterten, sich miteinander zu verbinden. Auch die Martinskirchengemeinde Engelbostel-Schulenburg aus der Nähe von Hannover und die Lukaskirchengemeinde in Leipzig-Volksmarsdorf sollten Partner werden. Mehr als dreißig Jahre lag diese Liaison brach - dann knüpfte der damals 26-jährige Diakon Holger Kiesé 1985 im Auftrag des Kirchenvorstandes der Martinikirche einen Briefkontakt nach Leipzig.

Ein erster Besuch erfolgte zur Leipziger Messe im September 1986, nach fünf Stunden Autofahrt und langwieriger Grenzkontrolle. Pfarrer Christoph Wonneberger empfing den Besuch aus dem Westen, es wurde gemeinsam Gottesdienst gefeiert, man lernte sich kennen und schnell schätzen. Es folgen fünf weitere Besuche zwischen Herbst 1986 und Herbst 1989, mit dabei waren neben Diakon Kiesé drei Jugendliche, zwei Kirchenvorsteher und ab 1987 auch der Engelbosteler Pastor samt Ehefrau.

Historische Fotos, die gerade in einer kleinen Ausstellung im Engelbosteler Gemeindehaus zu sehen sind, zeigen Leipziger und Engelbosteler bei den Besuchen zusammen an großen Tischen, essend und redend. Persönliches, das Gemeindeleben, Entwicklungen in der Gesellschaft, auch Bibeltexte und ihre Auslegung seien Themen gewesen, sagt der damalige Diakon Kiesé: „Wir kamen aus unterschiedlichen Kulturen, das wurde schnell deutlich - aber wir wollten uns verstehen“. Der gemeinsame Glaube, die gleiche Bibel - das trug auch über Grenzen hinweg. „Wir haben das Verbindende ausgebaut und das Trennende ausgehalten“, sagt Kiesé. Die Besuche und Kontakte seien „immer eine Bereicherung“ gewesen. Es wurde eine Reihe von Brieffreundschaften geschlossen und gepflegt - Smartphones gab es ja noch nicht.

Der gebürtige Ostfriese Kiesé empfindet die Partnerschaft bis heute als großes Glück, sagt er. Als die Mauer gebaut wurde, war er zwei Jahre alt - das Leben war nicht vorstellbar ohne den Wall zwischen Ost und West. Während seines Kirchenmusikstudiums hatte der heute 60-Jährige eine Reise durch die (musik-)historisch bedeutenden Städte Thüringens und Sachsens gemacht und gestaunt. Umso begeisterter war er als junger Diakon, die durch die Mauer eigentlich unerreichbare Kulturstadt Leipzig und ihre Bewohner mit seiner Gemeinde im Großraum Hannover zu verbinden. Die deutsch-deutsche Trennung habe man auch in der Zeit des intensiven Austauschs als „gegebene Tatsache“ hingenommen, erinnert sich Kiesé heute. Klar - die Demos seien immer größer geworden, es bestand Hoffnung auf Wandel. „Aber es gab keinen Gedanken an Mauerfall und Wiedervereinigung. Davon zu träumen, darauf zu hoffen - das hat keiner von uns gewagt.“

Doch schließlich leistete die Martinsgemeinde sogar einen eigenen Beitrag zum Wendegeschehen: Als das Kirchenbüro 1986 einen Fotokopierer anschaffte, wurde der bis dahin benutzte Matritzenumdrucker nicht mehr gebraucht. Mit ihm konnten per Schreibmaschine Buchstaben und auch Zeichnungen in eine Art Matritze geprägt und durch eine Spirituslösung per Umdruckwalze als blaue Farbe auf Papier übertragen werden. „Pfarrer Wonneberger in Leipzig war heiß auf solche Geräte“, sagt Holger Kiesé. So habe er für seine oppositionellen Gruppierungen in Leipzig, die sich für Menschenrechte und Umweltschutz einsetzten, Flugblätter drucken können - und das, ohne sie vom Staat genehmigen zu lassen. Das musste ansonsten bei jedem Druckerzeugnis, etwa auch jedem Gemeindebrief, passieren.

Zum 25. Jahrestag des Mauerfalls hat Bundesregierung.de Christoph Wonneberger 2014 an die Standorte der friedlichen Revolution begleitet.

Ein Kirchenvorsteher zerlegte das Gerät in zehn Einzelteile, dann schmuggelten die Engelbosteler Besucher das Gerät in den Osten, jeder hatte ein paar Teile in seinem Koffer. Eine Kopie des Bauplanes samt Liste der Einzelteile hat Holger Kiesé heute noch in seinen Unterlagen. Am 8. und 9. Oktober druckten Wonneberger und seine Mitstreiter knapp 25.000 Exemplare des berühmten Flugblattes "Wir sind das Volk" - einen Teil davon auf dem alten Matritzenumdrucker aus der Partnergemeinde. Das Flugblatt forderte die staatlichen Einsatzkräfte und die Bevölkerung auf, sich jeglicher Gewalt zu enthalten. Wie durch ein Wunder ging der Plan auf - zu den bis dahin größten Demonstrationen in der Geschichte der DDR kamen allein in Leipzig 75.000 Menschen. Einen Monat später fiel die Mauer.

Die Gemeindepartnerschaft hat wie andernorts in der Landeskirche viele Früchte getragen: Patenschaften für Neugeborene, Pflege in Hannover für den später schwer erkrankten Pastor Wonneberger und schließlich eine bis heute währende Freundschaft zwischen ihm und Holger Kiesé. Zum Reformationstag 2019 war Wonneberger wieder einmal zu Besuch, sprach in Langenhagen und Hildesheim vor Schülern über den Mauerfall. Dass die offizielle Partnerschaft 1998 schließlich nach einigen Personalwechseln friedlich einschlief - geschenkt. Geblieben sind viele gemeinsam gefeierte Gottesdienste, leidenschaftliche Diskussionen und Gebete - und das Wissen, dass es lohnt, gemeinsam für Freiheit und Gerechtigkeit zu kämpfen.

Alexander Nortrup